Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
Vom Netzwerk:
ausführlich wie möglich die Geschichte zu erzählen, von der schon im Brief die Rede gewesen war. Sie wollte sie noch einmal hören, mit allen Einzelheiten. Als Inga ihren Besuch auf dem Friedhof Kviberg in Göteborg beschrieb, wirkte Brigitte ungeheuer betroffen.
    »Da liegt er also«, sagte sie endlich. »Mein Großvater Ernst. Meine Großmutter hieß Erna, und sie fanden das mit den Anfangsbuchstaben offenbar einen wunderschönen Zufall. Sie hatten dieselbe Gravur in ihren Trauringen.«
    Brigitte war aufgestanden und hatte ein Foto geholt. Noch ein Stück schwarzweiße Geschichte. Das Bild zeigte einen jungen Mann in Uniform und neben ihm eine dunkelhaarige junge Frau im weißen Kleid und mit Brautschleier. Beide hielten sie einen Blumenstrauß.
    »Sie waren sehr jung, als sie geheiratet haben. Und das hatte natürlich seinen Grund. Sie hatten sich früh kennengelernt. Meine Großmutter musste mit der Bahn zur Schule fahren, und als sie eines Tages auf dem Bahnsteig stand, stand dort auch mein Großvater. Er arbeitete im Eisenwarenladen seines Vaters, den er später übernehmen sollte. Einige Wochen lang trafen sie sich auf dem Bahnsteig. Dann besuchte er sie und ihre Eltern. Aber kaum hatten sie sich füreinander entschieden, da kam der Krieg, und mein Großvater wurde einzogen. Zur Marine.
    Sie wohnten in Rostock, und er hatte bereits seine Wehrpflicht auf dem Meer abgeleistet. Also fuhr er mit der Marine hinaus, und meine Großmutter stand am Kai, genau wie in allen Beschreibungen von Abschied im Krieg. Ab und zu kam er auf Heimaturlaub, und jedes Mal war er ein wenig magerer und ein wenig erwachsener geworden. Aber ehe er auf die Wiesbaden versetzt wurde, bekam er eine Woche Urlaub, und da haben sie geheiratet. Den Antrag hatte er ihr längst gemacht, und ich
glaube, sie hatten beide das Gefühl, dass es keinen Grund zum Warten gab. Und das war ja sehr richtig gedacht.«
    Brigitte faltete die Hände auf ihren Knien.
    »Die Schlacht am Skagerrak«, sagte sie. »Kaiser Wilhelm war ungeheuer stolz auf seine Hochseeflotte und wollte sie in eine Entscheidungsschlacht gegen die Briten senden, obwohl seine Truppe zahlenmäßig unterlegen war. Die deutschen Verluste waren fast so groß wie die britischen. Die deutsche Presse versuchte übrigens, das Ganze als Sieg darzustellen. Genau wie die britische, natürlich. Für die Angehörigen, die gelernt hatten, die Wahrheit zwischen den Zeilen zu lesen, war klar, dass etwas Entsetzliches geschehen war. Und dann fing die lange Wartezeit auf ein Lebenszeichen an. In unserem Fall war das Warten umsonst.«
    Das war keine Anklage, aber das Unwiderrufliche in dieser Nachricht löste in Inga Schuldgefühle aus. Sie fragte, wie es weitergegangen sei, und wünschte, jemand könnte die unsichtbare Last von ihren Schultern nehmen.
    »Ich kann natürlich nur wiedergeben, was meine Mutter mir erzählt hat. Sie ihrerseits hat das von Eltern und Geschwistern meines Großvaters gehört. Das hast du dir sicher schon ausrechnen können. Meine Großmutter wurde schwanger, ehe er als vermisst galt. Ob er noch per Brief erfahren hat, dass er Vater werden würde, wissen wir nicht. Aber als meine Mutter auf die Welt kam, war ihre Mutter bereits Kriegerwitwe. Ihren Vater kannte sie also nur vom Hörensagen und in mancher Hinsicht durch die Geschichtsbücher.«
    »Habt ihr jemals irgendetwas erfahren?«
    »Von der Schlacht war natürlich überall die Rede, und meines Wissens haben die schwedischen Behörden korrekt Bericht erstattet. Es war bekannt, dass die Wiesbaden untergegangen war, und als nichts kam, abgesehen von weiteren Beweisen dafür,
dass die Besatzung umgekommen war … da begriff die Familie natürlich, wie die Dinge lagen. Dass Großvater auf dem Meeresgrund ruhte oder irgendwo begraben war, vielleicht in Schweden, Norwegen oder Dänemark. Aber jedenfalls konnte das an der Situation ja nichts ändern. Mein Großvater war tot und meine Großmutter allein mit einem neugeborenen Kind. Einige Jahre später heiratete sie dann den Mann, den ich Opa genannt habe. Sie hatte mehrere Kinder mit ihm und ein recht glückliches Leben.
    Aber für meine Mutter wurde die Geschichte des Vaters, der niemals aus dem Krieg zurückgekehrt war, entscheidend für ihr ganzes Leben. Sie studierte Geschichte und forschte über die Rolle der Frauen im Ersten Weltkrieg. Sie hielt Vorträge und war während des Zweiten Weltkrieges aktive Kriegsgegnerin. Zeitweise lebte sie bei Verwandten in der Schweiz, wo

Weitere Kostenlose Bücher