Der geheime Brief
wusste er, wo sein Vater begraben war, und das reichte.
Der Frankfurter Flughafen war groß, aber gut ausgeschildert, und die Fahrt über die Autobahn brachte sie bald in die Stadt mit ihrer Silhouette aus Hochhäusern und Bankgebäuden. Der Taxifahrer fuhr durch Wohnviertel mit schönen alten Häusern und bog in eine Straße voller kleiner Läden, Gemüsebuden und Restaurants ein. Dort stieg sie aus dem Wagen und betrachtete das Haus.
Die Fassade war beeindruckend. Sie zögerte etwas, ehe sie auf den Knopf neben der Gegensprechanlage drückte. Es brummte kurz, sie schob die schwere Tür auf und betrat ein Treppenhaus mit bunten Bleifenstern. Sie stieg die Steintreppe hoch und hörte, wie weiter oben eine Tür geöffnet wurde.
Eine Dame. Anders ließ sie sich nicht beschreiben. Gewellte graumelierte Haare, eine rote Seidenbluse von zurückhaltender
Eleganz und tadellos glatte Wollhosen. Die Hand, die ihr entgegengestreckt wurde, trug schöne Ringe.
»Willkommen in Frankfurt. Wie schön, dich hierzuhaben. Ich freue mich so. Sag bitte Brigitte zu mir.«
Sie verstand, dass sie auf Deutsch willkommen geheißen wurde, und dass Brigitte Seeger-Mallebré keinen großen Wert auf Förmlichkeit legte. Brigitte stieg auf ein etwas steifes, aber absolut akzeptables Englisch um, als sie Inga in die Wohnung bat und sie dann in einen Raum führte, bei dem es sich um das Wohnzimmer handeln musste. Drei Zimmer in der Wohnung lagen mit offenen Zwischentüren nebeneinander. Der Stuck an der Decke war prachtvoll, und die Wände sicher vier Meter hoch.
»Ja, es ist schön, wenn ich das selbst so sagen darf. Ich wohne seit vielen Jahren hier. Wenn ich nicht muss, ziehe ich hier auch nicht mehr aus.«
Sie bot Inga einen Platz auf dem Sofa an und fragte, ob sie ihr ein Glas Wein aus der Umgebung einschenken dürfe. Der Rheingau lag ganz in der Nähe. Schade übrigens, dass Inga nicht im Frühling gekommen sei, wo der blühende Knöterich die Hauswände im Hinterhof bedeckte. Dann hätten sie auf dem Balkon sitzen können.
Brigitte plauderte freundlich, während sie Kristallgläser und eine Flasche holte. Sie schenkte ein und stieß mit ihrem Gast an. Der Wein war gut und wurde sicher nicht exportiert, sondern in der Gegend selbst getrunken. Der rotgeschminkte Mund der Gastgeberin hinterließ einen Abdruck auf dem Glas.
»Hattest du eine gute Reise?«
»Ja, danke.«
Brigitte erkundigte sich nach Inga und deren Beruf, sprach über Fotografie und wusste sehr viel über Leni Riefenstahl, Helmut Newton und Annie Leibovitz. Dann lenkte sie das Gespräch
auf Außenpolitik und Friedensverhandlungen in allerlei Ländern, um schließlich zu verstummen.
»Dein Brief hat in der Familie wie eine Bombe eingeschlagen, wenn du diesen unglücklichen Vergleich entschuldigst«, sagte sie nach einer Weile.
Inga nickte, und Brigitte redete weiter.
»Dass mein Großvater damals im Krieg vermisst wurde, war für uns alle von großer Bedeutung. Für unsere Einstellung allem Möglichen gegenüber. Ich will uns ja nicht zu Helden oder Opfern machen, wir waren schließlich nicht die Einzigen mit diesem Schicksal. Wir Deutschen halten uns ohnehin nicht mehr so leicht für Helden. Das würde sehr schlecht zu unserer Geschichte passen, wie du sicher verstehst. Dass der Erste Weltkrieg in vielfacher Hinsicht etwas ganz anderes war als der Zweite, kann nichts daran ändern. Wenn wir unsere Schuld vergessen, dann gibt es genug andere, die uns daran erinnern. Aber ich glaube nicht, dass uns das passiert. Es gibt so viele von uns, die sich gegen das Vergessen engagieren.«
Brigitte lächelte kurz, wie um dem Gesagten die Spitze zu nehmen, und erklärte, dass sie sich als echte Europäerin betrachte. Wie hätte es auch anders sein können, nachdem sie mit einem Franzosen und einem Niederländer verheiratet gewesen war? Wusste Inga übrigens, dass Helmut Kohls Vater einmal mit seinem Sohn das Schlachtfeld von Verdun besucht hatte, und dort hatte Helmut schwören müssen, das Seine zu tun, damit sich dieser Wahnsinn niemals wiederholte? Und dass Helmut Kohls älterer Bruder im Zweiten Weltkrieg gefallen war? Kein Wunder, dass gerade dieser Kanzler sich so sehr für die europäische Einigung engagiert und die deutsche Wiedervereinigung in die Wege geleitet habe. Brigitte seufzte und sagte dann, die Zeit vergehe so schnell. Schon scheine der Mauerfall lange zurückzuliegen. Und Kriege gebe es immer noch.
Sie beugte sich über den Tisch vor und bat Inga, so
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