Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
würde finden, wonach sie so lange gesucht hatte. Um der Schwester willen – und ja, auch um ihrer selbst willen. Sie brauchte einen Abschluss, brauchte Gewissheit. Schuld war eine Sache, die Fakten eine andere.
Der dumpfe Schmerz senkte sich nun tief hinter ihre Augenhöhlen. Sie zwang sich, ihrer Befindlichkeit keine weitere Beachtung zu schenken. Stattdessen griff ihre Hand nach der ledernen Tasche, die auf dem Nebensitz lag. Sie öffnete den Reißverschluss und zog einen weißen Briefumschlag aus dem Innenfach. »Für Maria«, las sie. Behutsam fingerte sie den Brief aus seiner Hülle und entfaltete vorsichtig den Briefbogen. Sie strich das Papier glatt und legte es auf die neueste Ausgabe der Women’s Weekly, einer australischen Frauenzeitschrift.
Sie kannte die Zeilen des Briefes längst auswendig, es waren ihre eigenen Worte, die sie schon seit Jahrzehnten im Kopf immer wieder aufs Neue formulierte. Heute endlich hatte sie den Mut gefunden, sie aufzuschreiben, und nun las sie das Ende des Briefes ein letztes Mal, bevor sie ihn unterschreiben und zukleben würde:
Maria, ich weiß, dass Du dunkle Tage durchlebt hast. Die Mächte, die uns in diesem Leben zuweilen ergreifen und mit uns spielen wie der Wind mit einer Vogelfeder, sind viel zu oft jenseits unserer Kontrolle. Kriege, Stürme, Verfolgung – ich glaube, wir haben beide in unserem bescheidenen Leben mehr mit diesen Kräften zu tun gehabt, als uns lieb war. Ich denke oft an die schweren Stürme, die uns hier im tropischen Australien regelmäßig heimsuchen. Sie können fürchterlich wüten, Bäume entwurzeln und ganze Häuser zerstören. Sie können unser Leben völlig durcheinanderwirbeln, doch wenn ich heute auf die See schaue, sehe ich nur tiefblaues Wasser, so ruhend und friedvoll, als hätte es nie zuvor ein Unwetter gegeben.
Die Dame suchte jetzt nach ihrem Stift, um hinter dem letzten Satz ein Sternchen einzufügen. Dann drehte sie das Blatt um, zeichnete ein weiteres Sternchen und schrieb langsam wie ein Erstklässler, um die Vibrationen der Maschine aufzufangen:
Ich habe heute Wale gesehen. Sie kommen jedes Jahr zum Kalben in diese eine Bucht, ob es einen Sturm gegeben hat oder nicht. Es kümmert sie nicht, sie tun das, was ihnen die Natur eingegeben hat. Sie leben, das ist ihre Bestimmung.
Sie überlegte, ob sie das eben Geschriebene streichen sollte. Es las sich schwülstig, doch sie fand nach einiger Überlegung, dass sie an einem Punkt in ihrem Leben angelangt war, an dem sie sich gewisse Sentimentalitäten erlauben durfte. Zustimmend nickend, unterstrich sie sogar noch den letzten Satz. Dann drehte sie den Briefbogen wieder um, unterschrieb schnell, schob das Blatt in den Umschlag und klebte diesen zu, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Sie steckte den Brief in die Tasche, deren Reißverschluss sie mit einem Ruck zuzog, und legte die Tasche unter den Sitz, gerade noch rechtzeitig, um Craigs Hinweis Aufmerksamkeit zu schenken.
»Ma’am, da, geradeaus, auf zwölf Uhr, sehen Sie das? Ich glaube, wir haben es gefunden.«
Sie versuchte, dem Zeigefinger des Piloten mit ihrem Blick zu folgen, doch die tiefstehende Sonne blendete sie; ihre Augen brauchten ein wenig Zeit, um sich an die auf der Wasseroberfläche grell flirrenden Reflexionen zu gewöhnen. Sie zwinkerte, schloss dann für den Bruchteil einer Sekunde die Lider, und als sie sie wieder öffnete, sah sie unter sich eine silbrig glänzende Verwerfung, die sich im Wasser immer wieder rasant wendete und blinkte wie eine hoch in den blauen Himmel geworfene Silbermünze.
»Ist sie das? Ist das die Yongala? Aber wieso bewegt sie sich?« Die alte Dame war sichtlich erregt, erhob sich, so gut es in der engen Maschine ging, aus ihrem Sitz, um eine bessere Sicht aufs Meer zu haben. Doch sie fiel wieder ins Leder zurück, was sie nicht daran hinderte, es erneut zu versuchen. Mit zittrigen Armen stützte sie sich auf den Armlehnen ab.
»Ich schätze, das sind Barrakudas, die nach Thunfischen Ausschau halten.« Craig pfiff durch die Zähne. »Oh, Mann, jede Menge Leben da unten.« Er bemerkte ihren fragenden Blick. »Ungewöhnlich viele und große Fische für eine Stelle im offenen Meer. Das heißt, dass es hier ein Korallenriff oder etwas Ähnliches geben muss, in dem all diese Fische leben. Auf meinen Karten ist aber keines verzeichnet, was bedeutet, dass es an dieser Stelle wahrscheinlich ein künstliches Riff gibt. Die Yongala zum Beispiel.«
»Die Yongala ein künstliches
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