Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Großvater kurz darauf, und außer Natascha selbst gab es keine Nachkommen. Sie wusste das alles natürlich, aber es löste keine Emotionen bei ihr aus. Ob das so war, weil sie die Gegenwart der Mutter hier in diesem Haus so stark spürte?
Natascha schaute auf die Uhr. Wenn sie sich beeilte, könnte sie es sogar noch mit den Kollegen ins Kino schaffen. Die Kulturredaktion hatte zwei der begehrten Premierenkarten zu vergeben gehabt, und Natascha war eine der Glücklichen, die bei der hausinternen Verlosung der Tickets gewonnen hatten. Sie klappte ihr Handy auf und wählte Lisas Nummer.
»Hi Lisa, Natascha hier. Tut mir leid für deine Schwester, aber ich werde ihr das Ticket wohl nicht abtreten. Ich bin nämlich gleich fertig hier bei meiner Mutter.«
Natascha hörte eine Weile zu, was Lisa fröhlich schnatternd antwortete, dann schüttelte sie den Kopf und lachte:
»Ja, ich weiß, dass du deiner Schwester das Ticket eh nicht gegönnt hast, du kleines Miststück! Hätte ich es mir ansonsten anders überlegt? Bis gleich also.« Auf dem Bettrand im Schlafzimmer sitzend, lächelte sie über das Gespräch mit Lisa. In Gedanken versunken, öffnete sie schwungvoll die obere Schublade des Nachttischchens, die daraufhin krachend auf dem Holzboden landete. Natascha zuckte zusammen. Sie hatte für einen Moment vergessen, dass das gute Stück – wie das meiste hier im Haus – nicht mehr neu war.
»Mist!« Natascha bückte sich leise stöhnend und hob die Schublade auf. Unter ihr auf dem Boden lag eine Art Anhänger. Natascha nahm ihn auf, betrachtete ihn von allen Seiten. Er war faustgroß, elfenbeinfarben und zeigte ein geschnitztes Muster aus weichen Linien. Über das Material war sie sich nicht sicher, doch der Schmuck wog nicht schwer in ihrer Hand. Muscheln? Holz? Knochen? In der Mitte war ein blauer Edelstein eingefasst. Ein Opal vielleicht? Sie legte den Anhänger zur Seite. Der Boden der Schublade hatte sich an einer Seite gelöst, und Natascha hielt die Lade über ihren Kopf, um sich den Schaden von unten zu besehen.
Merkwürdig. Von unten sah die Schublade heil aus. Natascha setzte die Lade auf ihrem Schoß ab und griff unter die lose Seite, die sich anstandslos heraushebeln ließ. Gerade wollte sie den Boden zur Seite legen, da ließ sie etwas innehalten. Was war das? Sie blickte auf zwei Bündel Briefe oder das, was von ihnen übrig geblieben war, denn die Ränder der Umschläge sahen ziemlich verkohlt aus, so als hätte sie jemand gerade rechtzeitig vor einem Feuer gerettet. Vorsichtig nahm Natascha die mit einfacher Kordel verschnürten Päckchen aus ihrem Versteck und legte sie aufs Bett. Wieder hob sie die Schublade hoch und besah sie ungläubig von unten, dann von oben. Das gab es doch gar nicht – ein doppelter Boden! So was kannte sie bislang nur aus Spionageromanen, aber im Schlafzimmer ihrer Mutter? Was hatte sie da nur gefunden? Alte Liebesbriefe etwa, von einem geheimen Liebhaber? Das konnte sich Natascha beim besten Willen nicht vorstellen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte die attraktive Ärztin zwar zwei, drei ernsthafte Beziehungen gehabt, aber daraus hatte sie vor ihrer Tochter nie einen Hehl gemacht, warum auch? Sie konnte schließlich tun und lassen, was sie wollte. Heimliche Liebespost, nein, das passte einfach nicht zu Regina.
Nachdem Natascha diese Möglichkeit ausgeschlossen hatte, schob sie nun ohne Gewissensbisse die Kordel des dünneren Bündels sachte zur Seite; für das dickere würde sie eine Schere benötigen. Sie griff nach dem großen Umschlag, entnahm ihm ein Schreiben, das nach einem Dokument aussah – es hatte einen Stempel und so etwas wie eine Registrierungsnummer. Natascha verstand sofort: Es waren die Adoptionspapiere aus Australien, ausgestellt in Brisbane im Jahre 1912. Die offiziellen Dokumente ihrer Großmutter Maria, die damals in Australien von einem deutschen Missionarsehepaar adoptiert worden war. Sie wollte das Papier schon zur Seite legen, um den nächsten Umschlag zu öffnen, als sie plötzlich stutzte. Obwohl der untere Rand des Dokuments verkohlt war, konnte sie den Rest gut lesen. Unter »Rasse« stand im Dokument aboriginal und in Klammern halfcaste, was so viel wie »Mischling« oder »Halbblut« hieß. Was war denn hier los? Ihre Großmutter hatte kein bisschen Ähnlichkeit mit einer Aborigine, ihre Haut war viel zu hell. Sie hatte zwar dunkle Haare und braune Augen gehabt, wie Regina und Natascha auch, dennoch sahen sie alle eindeutig europäisch
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