Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
eine halbe Stunde hatte sie schon hinter dem Lenkrad ihres geparkten Autos gesessen, unschlüssig, ob sie aussteigen oder einfach davonfahren sollte. Schließlich siegte ihre praktische Seite. Sie wollte diese letzte Chance nutzen. Wenn sie es heute nicht schaffte, die Schränke ihrer Mutter nochmals gründlich durchzusehen, würden die Wohnungsauflöser morgen früh alles mitnehmen, was sie vorfanden. Die vertrauten Gegenstände ihrer Kindheit, am Montag um acht wären sie unwiederbringlich verloren, abgeholt und in einer Industriehalle untergestellt, bis man sie irgendwann an irgendjemanden verscherbelte, der einen günstigen Tisch oder einen Wandschrank brauchte. War sie deshalb eine schlechte Tochter? Natascha wusste nicht, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. War es falsch, den Haushalt der Mutter aufzulösen? Sollte sie sich nicht an jedes Stück klammern, es bis an ihr eigenes Lebensende wertschätzen? Wieder einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie keine Geschwister hatte, mit denen sie sich hätte beraten, die sie hätten trösten können. Andererseits gab es so auch keinen Streit. Das wäre das Schlimmste, was sie sich in so einem Fall vorstellen konnte.
»So ein Fall«, sagte sie nun laut, und es klang bitter. Als Journalistin sollte sie sich nun wirklich präziser ausdrücken. Der Fall – das war der verfrühte Tod ihrer Mutter Regina, die »nach langem Leiden einer schweren Krankheit erlegen war«, wie man so schönfärberisch sagte und wie Natascha es auch für die Todesanzeige übernommen hatte. Es war ihr schwergefallen, diese übliche Floskel zu verwenden, doch das Leid des vergangenen Jahres wäre sowieso nicht mit einem Satz zu fassen gewesen, und sie selbst hatte einfach nicht mehr die Kraft gehabt, etwas Ehrlicheres und Treffenderes zu formulieren. Die letzte Chemotherapie hatte die Mutter abgebrochen, in ihrer sanften, aber bestimmten Art hatte sie der Tochter ihren Entschluss mitgeteilt. Natascha kannte diesen Ton in der Stimme der Mutter, der keinen Widerspruch duldete, und so hatte sie ihren Wunsch respektiert. Natascha schluckte. Wie oft hatte sie sich seither gefragt, ob es richtig gewesen war, Regina so kampflos ihrem Schicksal zu überlassen? Wäre es nicht ihre Pflicht als einziges Kind gewesen, die Mutter am Aufgeben zu hindern? Hätte die Mutter am Ende doch noch gesund werden können?
Tränen stiegen Natascha jetzt in die Augen, und sie hatte Mühe, gegen ihre Gefühle anzukämpfen. Sie spürte wieder diese ohnmächtige Verzweiflung, wie damals, als die Mutter sie mit ihrer unerschütterlichen Entscheidung konfrontiert hatte. Doch was hätte sie schon sagen können? Ihre Mutter war Ärztin, sie wusste besser als die Tochter, wie ihre Chancen standen. Und es war ihr Schmerz, ihr Leben und auch ihr Tod, und den konnte sie der Mutter nicht abnehmen.
Natascha schüttelte sich, als könnte sie ihre Gewissensbisse auf diese Weise loswerden. Sie trug in letzter Zeit schwer an ihren Gefühlen, die aus allen Richtungen an ihr zu zerren schienen.
»Verdammt!«, rutschte es ihr raus. Sie war nämlich auch wütend auf ihre Mutter. Wenn sie schon nicht für sich selbst hatte kämpfen wollen, warum, verdammt noch mal, konnte sie dann nicht wenigstens für Natascha überleben wollen? Wie konnte sie einfach so gehen und die einzige Tochter allein zurücklassen? Tränen liefen jetzt über Nataschas Wangen. So hatte sie sich zuletzt als Mädchen gefühlt, als die Mutter einen – wie sich später herausstellte – harmlosen Unfall gehabt hatte und sie deshalb nicht von der Schule abholen konnte. Eine halbe Ewigkeit hatte Natascha vor dem Schultor gewartet, bis endlich eine Lehrerin sie ins Schulgebäude zurückführte und ihr behutsam vom Unfall berichtete. Natascha erinnerte sich nur zu gut an das schreckliche Gefühl. Es war, als ob ihr mit einem Mal der Boden unter den Füßen fortgerissen worden wäre. Dass die Sonne so hoch am Himmel stand, hatte sie damals wie Hohn empfunden, als sie mit hängenden Armen vor der Lehrerin stand und nicht wusste, was sie fühlen oder sagen sollte.
Natascha rief sich in Erinnerung, weshalb sie hier war. Sie wollte ein letztes Mal die Schränke und Schubladen nach persönlichen Dingen der Mutter durchsuchen. Wieder überkamen sie die schon bekannten Zweifel: Sollte sie die Möbel nicht doch besser behalten? Doch wohin damit? Ihre eigene Wohnung war zu klein, um mehr als Mutters alten Familienesstisch, das zwölfteilige Tafelgeschirr und
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