Der geheimnisvolle Gentleman
Sie warf sich auf die Knie, ihrer eigenen Gefahr nicht bewusst, unfähig, die Augen von der Katastrophe unter ihr abzuwenden.
Dane kam zuerst wieder an die Oberfläche und wischte sich die langen Haare aus dem Gesicht. Er schaute sich voller Panik um. Olivia sah, wie seine Lippen sich bewegten. Er rief nach ihrem Bruder.
Vor lauter Liebe und Angst um ihn wurde ihr ganz schwer ums Herz. Auf einmal sah sie Walter kurz an der Wasseroberfläche auftauchen. Er versuchte zu schwimmen, schwach wie er war. Dane war mit wenigen, kräftigen Zügen bei ihm und begann ihn von dem Mühlrad fortzuziehen.
Plötzlich war Danes Kopf unter Wasser. Ein anderes Gesicht tauchte hinter ihm auf.
Erst jetzt verstand Olivia, warum Dane und Walter gestürzt waren. Die Schimäre lebte noch!
Dane ließ Walter los, damit er nicht mit unter Wasser gezogen wurde. Walter versuchte, hinterherzuschwimmen und Dane zu helfen, aber der schob ihn fort, bevor er untertauchte, um die Schimäre zu verfolgen, die wie ein Krokodil unter der Wasseroberfläche verschwunden war.
Walter ließ sich treiben. Es sah aus, als wäre er wieder kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
Die Mühle schwankte unter Olivias Füßen, als sie sich auf alle viere niederließ. Sie warf noch einen letzten Blick auf Walter, dann krabbelte sie auf die andere, sicherere Seite und damit weg von dem großen Mühlrad.
Dort angekommen stand sie mit zitternden Knien auf, griff
mit beiden Händen hinter sich, um ihr Kleid aufzumachen. Ihre Rippen schmerzten fürchterlich und ihre Hände zitterten, doch es gelang ihr, das Kleid so weit zu öffnen, dass sie es sich über den Kopf ziehen konnte. Sie ließ es in den Fluss segeln.
Dann sprang sie hinterher.
Unter Wasser verlief Danes Kampf gegen die Schimäre nicht annähernd so gut, wie er gehofft hatte. Er wollte den Mistkerl nicht nur daran hindern, ihn zu ertränken; er wollte die Schimäre gefangen nehmen. Falls ihm das nicht gelänge, wollte Dane den Kerl mit voller Inbrunst ins Jenseits befördern.
Danes überlegene Größe und Stärke halfen ihm im strudelnden Wasser nicht viel. Der kleinere Mann war schneller.
Nach kurzer Zeit musste er mit Überraschung feststellen, dass er um sein Leben kämpfte. Zudem bewegte sich der Kampf viel zu dicht an das Mühlrad heran.
Endlich gelang es ihm, seine Hände um den Hals des Verräters zu legen. Danes eigene Sicht verdunkelte sich plötzlich. Er brauchte sofort Sauerstoff, aber nicht bevor er die Welt von diesem verdammten Schweinehund befreit hatte.
Er bezwang das Bedürfnis seiner Lungen und drückte die Schimäre nach hinten, immer weiter.
Dane fühlte den enormen Sog des Wassers und ließ den Mann sofort los.
Er fand seinen Tod unter dem kaputten, kreischenden Mühlrad.
Dane kämpfte sich an die Oberfläche, in Richtung Luft und Leben und Olivia. Plötzlich verfing sich seine Hose im Rad, und er wurde nach unten gezogen.
Olivia zerrte Walter die Uferböschung unterhalb der Mühle hinauf. »Walter«, keuchte sie. »Walter, atme!«
»Ja, Mami«, stöhnte er. Er rollte sich auf die Seite und erbrach einen Schwall Flusswasser. Dann kam er erneut auf dem Rücken zu liegen. »Ist mit Dane alles okay?«
Olivia beobachtete den Fluss. »Ich kann ihn nicht sehen.« Ihre Angst war still und überwältigend.
»Los, hol ihn dir«, sagte Walter und schwenkte einen Arm. »Du schaffst das, Livvie. Du bist die erstaunlichste Frau, die ich kenne.«
Olivia drückte ihn ins Gras zurück. »Du bleibst hier. Wenn du diesen fiesen kleinen Mann siehst …«
Walter nickte. »Dann stelle ich mich tot. Das kann ich dieser Tage am besten.«
Olivia rannte flussaufwärts. Ohne lange darüber nachzudenken, holte sie tief Luft und tauchte unter das Mühlrad.
Das Wasser war trübe von aufgewühltem Schlamm. Vorsichtig ergriff sie die Seite des Rades und ließ sich in die Tiefe ziehen. Es gab einen Trick, wie man sich von dem Rad tragen lassen konnte. Wenn sie es vermeiden konnte, in dem Friedhof aus abgestorbenen Ästen und anderem Unrat, der sich über die Jahrzehnte dort unten angesammelt hatte, hängen zu bleiben, würde das Rad sie wieder nach oben tragen. Das hatten Walter und sie herausgefunden, als sie noch zu naiv waren, die Gefahr dahinter zu erkennen.
Weil die Dämmerung eingesetzt hatte, wusste sie nicht, wie sie Dane aufgrund des mangelnden Lichts unter Wasser ausfindig machen sollte.
Da erblickte sie sein weißes Hemd, das sich unter ihr im Wasser aufblähte. Er war gefangen,
Weitere Kostenlose Bücher