Der geheimnisvolle Gentleman
Mann in ganz London, auf den diese Beschreibung zutraf: Dane Calwell, Vicomte Greenleigh, der begehrteste Junggeselle der Saison. Olivia war ihm nie vorgestellt worden, aber sie hatte ihn bei zahlreichen Veranstaltungen gesehen, zu denen ihre Mutter sie auf der Suche nach einer passenden Partie geschleift hatte. Olivia hatte sich keine Hoffnungen gemacht, jemals die Aufmerksamkeit »des Dänen« auf sich zu lenken, was sie natürlich niemals zugeben würde, selbst wenn man von ihren mitternächtlichen Fantasien von der, ähm, Eroberung durch einen Wikinger einmal absah. Sie selbst war jedenfalls nicht der heiß begehrte Fang der Saison.
Mutter wurde niemals müde, sie daran zu erinnern, dass sie etwas zu groß gewachsen war und nie wirklich gelernt hatte, ein Ballkleid mit Anmut zu tragen. Ihre Haare schienen ein Eigenleben zu führen, und in der Öffentlichkeit schien sie nie
zu wissen, wohin mit ihren Händen, geschweige denn mit ihren zu groß geratenen Füßen.
Und doch hatte ihre Mutter nicht aufgegeben. Cheltenham musste weiterbestehen. Deshalb hatte der gut aussehende, vermögende Lord Greenleigh beschließen müssen, schwimmen zu gehen.
Der Auftritt des potenziellen Ehemanns.
Er strich sich seine langen, bis vor kurzem noch goldblonden Haare aus dem Gesicht und blinzelte sie aus himmelblauen Augen verwirrt an. »Seid … seid Ihr wohlauf?«
Mutters Spiel ging auf. Pflichtbewusst, wie er war, würde er Olivia retten. Wie peinlich. Grimmig beschloss sie, nicht mitzuspielen. »O ja«, versicherte sie ihm. »Es besteht kein Grund, sich um mich Sorgen zu machen.«
Offenbar hatte er sie nicht verstanden, denn er streckte wieder die Arme nach ihr aus. Olivia entwischte ihm und schwamm geschickt zur Seite. Leider befand er sich dadurch zwischen ihr und der Steintreppe, und sie begann bereits zu zittern.
Er griff erneut nach ihr. Wieder wich sie ihm aus. Er starrte sie frustriert an. »Wollt Ihr nicht, dass ich Euch helfe?«
»Nein danke«, erwiderte sie höflich. »Wenn Ihr nur etwas zur Seite treten würdet, könnte ich alleine meinen Weg ans Ufer finden.«
Er blinzelte und runzelte die Stirn. Das Flusswasser umspülte seinen Brustkorb wie die großen, unbeweglichen Pfeiler der Brücke. »Bitte?«
Olivia gab auf. Sie hatte keine Zeit, mit ihm zu plaudern. Seinem kräftigen, wohlgeformten Körper nach zu urteilen, bereitete es ihm sicher keine Schwierigkeiten, einfach aus dem Fluss zu marschieren. Ihr hingegen wurde mit jedem Augenblick kälter. Mit einem Armzug schwamm sie ein kleines Stückchen flussabwärts an ihm vorbei. Selbstverständlich versuchte der Kerl wieder, sie festzuhalten, aber er schien dabei keinen einzigen Schritt auf sie zu machen zu wollen, deshalb
war sie schon an ihm vorbei und schwamm in Richtung der Treppe.
Auf halbem Weg warf sie einen Blick zurück. Er stand immer noch da, unbeweglich wie ein Fels. »Wollt Ihr nicht mitkommen?«, rief sie. »Das Wasser ist sehr kalt.«
Er drehte den Kopf und seinen Oberkörper, um in ihre Richtung zu sehen. »Ich … ich kann nicht.«
Olivia verlor langsam die Geduld. Ihre Zähne klapperten inzwischen sehr stark, und der größte Teil ihres Körpers war taub. »Ich werde sie dazu bringen, sich bei Euch zu entschuldigen«, rief sie schnippisch. »Ich weiß, dass es furchtbar war, was sie getan hat, aber ich habe doch den Eindruck, dass Ihr Euch aufführt wie ein Esel.«
Er schaute sie ungläubig an. »Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet, Miss. Meine Stiefel stecken im Schlamm fest, deshalb kann ich mich nicht bewegen.«
»Oh.« Sehnsüchtig schaute Olivia noch einmal in Richtung der Steintreppe, dann kehrte sie um.
»Nein«, protestierte er, als er sie auf sich zukommen sah. »Schwimmt weiter! Ihr müsst aus diesem eisigen Wasser raus!«
Olivia ignorierte ihn und war mit ein paar eiligen Schwimmzügen an seiner Seite. »Könnt Ihr nicht einfach Eure Füße aus den Stiefeln ziehen?« Er schaute betreten zur Seite. »Sie sind sehr neu, und sie sitzen sehr eng. Normalerweise bedarf es der Hilfe meines Kammerdieners, sie auszuziehen.«
Olivia gab sich keine Mühe, ihre Meinung über diese Art von Eitelkeit zu verbergen. Er bemerkte ihre Reaktion und zuckte mit den Achseln. »Heutzutage tragen alle solche Stiefel.«
Na, was für ein selbstgefälliger nordischer Schönling er doch war. Es geschah ihr recht, dass der einzige Mann in ganz London, zu dem sie sich hingezogen fühlte, ein eitler und unpraktischer Dandy war. Als hätte er solche
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