Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
nachts.
Als sie das erste Mal die Klappe am unteren Rand der Tür öffneten und ihm die wässrige Suppe hineinstellten, war er zuversichtlich gewesen. »Ein neuer Tag«, hatte er gedacht. Gleich würden sie ihn zu dem zuständigen Beamten bringen, gleich würde sich alles aufklären. Er hatte die dünne Brühe nicht angerührt. Als niemand kam, um ihn zu holen – und er meinte, stundenlang gewartet zu haben –, fing er an, gegen die Tür zu schlagen und zu rufen. Da kamen sie. Er hörte, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte, und sprang auf. »Gott sei Dank«, rief er erleichtert, als zwei Wärter seine Zelle betraten. »Das wurde aber auch Zeit«, sagte er noch.
Einer der Männer trat die Blechschüssel mit der kalten Suppe wie einen Fußball in seine Richtung. Sie flog scheppernd gegen die Wand und ergoss sich über die Decke, auf der er die ganze Nacht gesessen hatte. Der erste Schlag traf seinen leeren Magen, und er sackte auf die Knie. Fäuste in seinem Gesicht, Stiefel auf Brust, Rücken und Beinen. Sie nannten ihn einen Hurensohn, einen elenden Verräter, sagten, dass sie ihm sein großes Maul schon stopfen würden.
Dunkelheit.
Er sah sie nicht gehen. Manchmal hörte er das Schrillen aus den Lautsprechern, aber nur von ferne. Als der Nebel in seinem Kopf sich langsam lichtete, als er sich vorsichtig aufsetzte und an die nackte Wand lehnte, spürte er die Schmerzen kaum. Er hatte etwas verloren, tastete seinen Körper vorsichtig ab, suchend. Tränen liefen ihm übers Gesicht, brannten in der Wunde auf seinem Jochbein.
Er dachte an Galina, an seine Söhne und dann an Meschenow. Er hörte ihn sagen: »Es gibt Gerüchte, dass man Musikern, die sich häufig im Ausland aufhalten, Feindkontakte oder antisowjetische Agitation unterstellt.«
Da fiel es ihm ein. Das Wort, das er verloren hatte. »Missverständnis«. Es klang fremd, war jetzt ohne Bedeutung. Er zerlegte es in Silben. Miss-ver-ständ-nis. Nicht verstehen. Ohne Verstand. Irrtum.
Nein, es musste einen Grund geben. Irgendetwas hatte er getan. Aber was?
Er rief nicht mehr, trank gierig die dünne Suppe, die man ihm hinstellte, aß das Brot und trug seinen Eimer zur Latrine.
Die Zeit. Er durfte die Zeit nicht verlieren. Er orientierte sich an den Latrinengängen. Mit einer Hand den Hosenbund haltend, in der anderen den Metallbügel des Kübels, wankte er auf Strümpfen durch den schmalen Gang. Jeder Eimer ein Tag. Sieben Eimer, sieben Tage. Zehn Eimer. Zwölf Eimer.
Zu Anfang dachte er darüber nach, was man ihm vorwerfen mochte. Stundenlang ließ er seine Auslandsreisen Revue passieren, suchte akribisch nach Begegnungen, mit denen er sich verdächtig gemacht haben könnte, führte sich Artikel, die in der Auslandspresse gestanden hatten, vor Augen. Aber bald gingen die Bilder ineinander über, konnte er sie nicht mehr zuordnen. Der Schlafentzug schwächte ihn, höhlte seinen Verstand aus. Er meinte sich zu erinnern, wie sein Vater ihm nach seinem ersten großen Solokonzert, er war gerade siebzehn, gratulierte. Die Bilder waren ganz real und rührten ihn zu Tränen. Aber nein. Nein, der Vater war doch lange vorher gestorben. Es war doch Meschenow gewesen, der ihn überschwenglich in die Arme genommen hatte.
Immer mehr gerieten seine Gedanken durcheinander, verlangsamten sich, wurden zäh und klebrig.
Manchmal hörte er Schreie aus den Nachbarzellen, hörte, wie Gefangene über den Flur gestoßen oder geschleift wurden. Dann hielt er sich die Ohren zu, schloss die Augen, wählte in Gedanken eine Partitur aus und spielte sie in seinem Kopf, hörte die Geigen, die Bläser, die Cellos, das Klavier. Er neigte den Kopf leicht nach links, hob die Rechte mit dem imaginären Bogen und spielte. In diesen Augenblicken kehrte sein Zeitgefühl zurück, er flüchtete sich in die Takte der Musik, klammerte sich an das Bild eines hin- und herschwingenden Metronoms.
Die nie verlöschende Glühbirne, das immer wiederkehrende Fiepen aus den Lautsprechern und der Hunger. Flöhe, die in der Decke genistet hatten, hausten auf seinem Kopf, in seinen Achselhaaren und um sein Geschlecht. Das alles zersetzte die Konzentration, die so nötig war, um die Kopfmusik zu spielen, nicht aus dem Takt zu kommen.
Mit dem zwölften Eimer begann der Zweifel, das Misstrauen gegen sich selbst. Manchmal trug er lediglich eine Pfütze Urin hinaus, manchmal war der Behälter halbvoll. Vielleicht schickten sie ihn nicht jeden Tag? Vielleicht …? Vielleicht war er schon viel
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