Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
länger hier. Nur zwei Schritte, um die Zelle zu durchschreiten. Die zeitlose Enge griff seinen Verstand an.
Dann drehte sich der Schlüssel. Kurz nachdem er seinen Kübel weggebracht hatte, drehte sich der Schlüssel erneut im Schloss. Er stand auf, griff automatisch den leeren Kübel.
»Stehen lassen«, schnauzte einer der Schließer.
Sie führten ihn eine ausgetretene Steintreppe hinauf. Eine Metalltür öffnete sich. Tageslicht. Gleißendes Tageslicht. Es brannte in seinen Augen, und doch konnte er den Blick nicht von dem Fenster wenden, hob den Kopf, blinzelte in die Sonne. Er wurde weitergeschubst. Eine zweite Tür. Ein breiter, langer Flur. Schritte näherten sich, kamen ihnen entgegen. Die beiden Männer drückten ihn gegen die Wand, rissen die Schöße seiner inzwischen völlig verdreckten Jacke hoch und stülpten sie ihm über den Kopf. Wen sollte er nicht sehen? Wer sollte ihn nicht sehen? Als die Schritte vorbei waren und hinter ihnen verhallten, schubsten sie ihn weiter auf eine der Türen zu. Auf dem Türblatt war ein Schild angebracht. Antip Petrowitsch Kurasch, Offizier, MWD.
Das Büro war groß. Ein kräftiger Mann lehnte rauchend in seinem Schreibtischsessel, hinter ihm ein Stalinporträt, gut viermal größer als ein menschlicher Kopf. Weinrote schwere Vorhänge verwehrten den Blick durch die beiden hohen Fenster. Das milde Licht zweier Schreibtischlampen hielt den Großteil des Zimmers im Halbdunkel. Ein langer Tisch mit mehreren Stühlen im Hintergrund, ein weicher Teppich unter seinen Füßen. Das alles nahm Ilja Wassiljewitsch Grenko verschwommen wahr. Was er aber mit aller Deutlichkeit sah, war seine Geige. Sie lag, zusammen mit dem Geigenbogen, auf dem Schreibtisch. Ohne nachzudenken, ging er darauf zu, wollte sie nehmen, aber aus dem Halbdunkel trat ein Mann und hielt ihn zurück.
Jetzt begann Antip Kurasch mit tiefer, freundlicher Stimme zu sprechen.
»Ilja Wassiljewitsch Grenko, wie schön, Sie persönlich kennenzulernen. Sie müssen wissen, ich bin ein Bewunderer Ihrer Kunst.« Er lächelte.
Ilja spürte eine Erleichterung, die ihm die Tränen in die Augen trieb. »Genosse Kurasch, ich bin so froh, endlich mit Ihnen sprechen zu können. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, das müssen Sie mir glauben.«
»So, muss ich das?« Das Lächeln verschwand.
»Bitte, Genosse Kurasch, sagen Sie mir, was man mir vorwirft. Ich kann das sicher aufklären.«
»Oh, da bin ich sicher. Aber tun Sie mir zunächst einen Gefallen.« Er reichte ihm die Geige. »Spielen Sie für mich.«
Ilja nahm die Geige mit der freien Hand an. »Gerne. Ich spiele gerne für Sie.« Sein Herz schlug vor Zuversicht und Freude schneller. Er hielt endlich seine Geige wieder in Händen, und Kurasch hatte erkannt, dass seine Verhaftung ein Irrtum war.
Der Vernehmungsoffizier hielt ihm den Geigenbogen hin. Ilja sah verlegen auf seine Hand, die den Hosenbund hielt. »Ich bräuchte einen Gürtel«, flüsterte er verlegen.
Kurasch lächelte wieder.
»Ich habe Sie gebeten, mir vorzuspielen. Wollen Sie mir das verweigern?«
Ilja schluckte. Er nahm den Bogen mit zittriger Hand, und die Hose sackte ihm auf die Füße. Und mit der Hose seine Zuversicht. Die Unterhose war beschmutzt. Er schnappte nach Luft vor Scham.
Er schloss die Augen. Die ersten Töne gelangen ihm nicht. Er war unkonzentriert, fand endlich doch in sein Spiel und vergaß, wo er war. Vergaß seinen unwürdigen Anblick. Spielen, spielen, immer weiterspielen. Den Tönen folgen, fort von hier.
Kurasch schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Genug!« Er nahm ihm die Geige ab. Ilja bückte sich, um seine Hose hochzuziehen.
»Nein«, brüllte Antip Kurasch. Er grinste breit. »Der große Geiger Ilja Wassiljewitsch Grenko mit heruntergelassenen Hosen gefällt mir gut.« Die Männer, die ihn hergebracht hatten, lachten.
Kurasch packte die Geige fast liebevoll zurück in den Koffer und setzte sich in seinen Sessel.
»Ilja Wassiljewitsch«, begann er mit leiser Stimme, »sagen Sie mir doch bitte, ob das Ihr Eigentum ist.« Er schob eine Partitur über den Tisch.
Ilja ging mit kleinen Schritten, die Hände vor seiner beschmutzten Unterhose, auf den Schreibtisch zu. Auf dem grauen Schutzumschlag stand: Johann Sebastian Bach, Violinkonzerte, Konzert a-Moll.
Ilja nickte vorsichtig. Er verstand die Frage nicht. Sie hatten die Tasche mit den Partituren doch aus seiner Garderobe mitgenommen.
»Das Heft gehört also Ihnen?«, fragte Kurasch noch einmal
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