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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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nach. Jetzt nickte Ilja bestimmt und erleichtert. Er dachte, jetzt verstehe ich. Sie glauben, ich habe sie gestohlen. Sie glauben, ich bin ein Dieb. Das lässt sich schnell aufklären.
    Kurasch drehte das Heft um und wies auf den unteren Rand. »Lesen Sie vor«, sagte er immer noch ganz freundlich.
    Ilja las: »Musikverlag Bauer, München.«
    »Können Sie mir sagen, wann Sie in München waren?«
    Ilja schluckte. Er war nie in München gewesen. Die Partitur hatte er in London in einem Antiquariat gekauft. Er erklärte es.
    »Hmm.« Kurasch schlug das Heft in der Mitte auf. »Ilja Wassiljewitsch, sagen Sie mir doch bitte, was hier steht.« Er wies auf eine Randnotiz. Dort stand in kindlicher Handschrift auf Deutsch »Fliehen, in Eile« und darunter die Übersetzung ins Russische.
    Ilja schluckte. Er erinnerte sich an jenen Nachmittag in London. James Forster, der Cellist des ihn begleitenden Orchesters, hatte ihm die Stadt gezeigt. In einer kleinen Seitenstraße entdeckten sie ein Antiquariat, das im Schaufenster diverse Partituren für wenige Pence anbot. An diesem Heft hatten ihn die Randbemerkungen in der fremden Schrift interessiert. Forster, der Deutsch sprach, hatte sie übersetzt und erklärt, dass man am Schriftbild sehen könne, dass die Vermerke von einem Kind stammten. Sie sprachen von einem tiefen und gleichzeitig naiven Verständnis für die Musik, und aus diesem Grund hatte er die Partitur gekauft.
    »Verehrter Antip Petrowitsch, ich habe das Heft in London in einem Antiquariat gekauft. Ich war nie in Deutschland. Wahrscheinlich hat das Heft einem deutschen Kind gehört, das sich aufgeschrieben hat, wie die markierten Stellen klingen sollten. Ich habe es als Kind genauso gemacht und darum …« Seine Stimme wurde beim Anblick des Offiziers, der ihn mit vorgeschobenen Lippen gelangweilt betrachtete, immer leiser.
    Kurasch beugte sich vor, blätterte einige Seiten weiter. »Aufsteigend, einen steilen Berg hinauf«, stand da, und auf einer weiteren Seite »Eilend, springend, einem plätschernden Bach folgen«. Die letzte Randnotiz lautete: »Tanzend, frei.«
    Kurasch brüllte los.
    »Ein Buch aus Deutschland! Randvoll mit handschriftlichen Notizen. Halten Sie mich für blöd, Ilja Wassiljewitsch? Ich will wissen, an wen Sie diese Partitur weitergeben sollten.«
    Ilja starrte ihn fassungslos an. »An wen … aber nein, an niemanden. Das sind doch nur …«
    Kurasch sprang auf.
    »An niemanden. Dann handelt es sich also um Ihren eigenen Fluchtplan. Vielleicht in Verbindung mit Ihrer Wienreise?«
    Iljas Kopf schwirrte. Obwohl Kurasch unmittelbar vor ihm stand, ihn anschrie und ihm feine Speicheltropfen ins Gesicht spie, verstand er nicht. Stattdessen hörte er Meschenow. »Wo spielen sie denn, die russischen Musiker im Exil? Du hast doch sicher von ihren Konzerten gehört?«
    Kurasch saß wieder hinter seinem Schreibtisch. Er legte ein Schreiben auf die Partitur, schraubte einen Füller auf und legte ihn daneben. »Ersparen Sie mir und sich weitere Verhöre und unterschreiben Sie.«
    »Geständnis des Ilja Wassiljewitsch Grenko«, stand auf dem Papier. »… habe ich meine Reisemöglichkeiten missbraucht«, las er, »… heimlicher Kontakt nach Deutschland«, las er, »… Vorbereitung meiner Flucht«, las er, aber der Sinn dieser Worte erreichte ihn nicht. Wie ein kleines Kind, das staunend den ersten Schnee betrachtet, dachte er: »Wer hat das geschrieben? Wo kommt das her? Wie ist das möglich?«
    Stumm und ungläubig schüttelte er den Kopf.
    Kurasch sprach langsam und mit ruhiger Stimme: »Grenko, wir werden nur dieses eine Mal hier, in dieser angenehmen Atmosphäre, miteinander plaudern. Wenn Sie jetzt unterschreiben, lege ich ein gutes Wort für Sie ein, und Sie kommen mit zehn Jahren Besserungsarbeitslager davon. Unterschreiben werden Sie sowieso, hier haben bisher alle unterschrieben.« Er lächelte großzügig und hielt Ilja den Füllfederhalter hin. Eine halbe Minute? Eine ganze?
    Dann warf er ihn auf den Schreibtisch. Tinte spritzte auf das Papier. Er winkte die Schließer heran. »Schaffen Sie ihn fort«, sagte er und schüttelte mit dem Kopf, wie ein Lehrer, dem der Starrsinn seines Schülers unbegreiflich ist.
    Ilja bückte sich und zog seine Hose hoch. Kurasch stand auf und sagte: »Ihr Musiker haltet euch für besonders schlau, aber bisher haben alle ein Geständnis abgelegt, sogar schneller als so mancher dumme Bauer.«
    Als sie ihn den Gang entlangführten, hörte er wieder und wieder

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