Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
andere Gäste liefen zum Klavier. Er dachte an einen Ohnmachtsanfall.
In dem nachtblauen Stoff auf Vikas Rücken zeigte sich ein kleines rundes Rot, das langsam größer wurde. Jetzt erst brachte er die Abfolge der Geräusche in Zusammenhang. Sie legten Vika auf den Boden. Irgendjemand rief: »Wir brauchen einen Notarzt.« Sascha blickte in die graublauen Augen, die ihn nicht sahen. Die blind und gleichgültig die Decke betrachteten.
Der Schuss musste vom Durchgang zur Lobby gekommen sein. Er lief hinüber. Hinter der Rezeption stand ein junges Mädchen, kreideweiß und unbeweglich vor Schreck. Sascha lief auf sie zu.
»Wo ist er hin?«, schrie er, und das Mädchen zeigte stumm, mit einer ängstlichen, minimalen Handbewegung auf den Aufzug. Er drückte den Fahrstuhlknopf, über der Tür erschien ein Pfeil nach oben. Der Aufzug kam von unten. Runter. In die Tiefgarage. Er nahm die Treppe, rannte. Die schwere Feuerschutztür zur Garage fiel hinter ihm ins Schloss. Der Geruch von Autoabgasen lag in der Luft.
Er lauschte. Stille. Dann hörte er einen Motor starten und das Quietschen von Reifen, sah das Hinweisschild »Ausfahrt«. Er folgte den Pfeilen. Ein kurzes Krachen. Als er die Ausfahrt endlich erreichte, lag die gelbschwarze Barriere auf der Fahrbahn, und ein silberner Kleinwagen bog nach rechts auf die Straße. Das durchdringende Auf und Ab eines Martinshorns näherte sich aus der anderen Richtung.
Sascha stand auf dem Bürgersteig, wollte ins Hotel zurückkehren, doch dann hielt er inne. Vikas Anruf. »Ich bin in Schwierigkeiten.« Er griff in seine Hosentasche, fühlte den Zimmerschlüssel darin. Vika hatte ihn gebeten, in ihrem Zimmer zu warten. Er hatte es nicht einmal betreten, vielleicht hatte sie dort weitere Nachrichten hinterlassen.
Eilig machte er sich auf den Weg zur Pension. Auch diesmal war niemand hinter dem Empfangstresen. Er betätigte den Klingelknopf nicht, ging direkt die Treppe hinauf zu den Zimmern. Nummer acht lag am Ende des Ganges. Er sah es sofort. Die Tür war aufgebrochen. Sein Herz klopfte, als er sich an die Wand drückte und sie mit ausgestrecktem Arm aufstieß. Stille. Das kleine Zimmer war durchwühlt, das Bett umgeworfen, die Matratze aufgeschnitten. Vikas Habseligkeiten waren auf dem Boden verstreut.
Er griff in seine Sakkotasche und holte den Schließfachschlüssel heraus. Hauptbahnhof. Als er die Treppe herunterlief, fiel sein Blick hinter den Tresen. Die dürre Frau saß, den Oberkörper an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt, wie eine vergessene Schaufensterpuppe auf dem Fußboden. Der Punkt mitten auf der Stirn war so rot wie ihre Lippen.
Sascha verließ die Pension, setzte sich in seinen Wagen und fuhr zum Hauptbahnhof. Auf der Fahrt schlug er immer wieder auf das Lenkrad. »Scheiße! Verdammte Scheiße!« Wo war Vika da hineingeraten? Und jetzt wohl auch er. Die Bullen würden ihn bald identifiziert haben. In der Tiefgarage und im Hoteleingang gab es sicher Überwachungskameras, und in der Bar hatte er einen Cocktail getrunken. Seine Fingerabdrücke kannten sie. Einbruch, Diebstahl, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Vandalismus und einiges mehr. Seit sechs Jahren hatte er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen, oder genau genommen war ihm in den letzten sechs Jahren nichts nachzuweisen gewesen. Aber jetzt würden die den alten Kram ausgraben und ihm Fragen stellen, die er nicht beantworten konnte.
Was hatte er in der Pension angefasst? Die Zimmertür hatte er mit dem Handrücken aufgestoßen, da war er sicher. Nein, da konnte … Wieder schlug er auf das Lenkrad. »Scheiße!« Bei seinem ersten Besuch hatte er den Klingelknopf gedrückt. Jetzt konnte er nur hoffen, dass das nach ihm auch noch andere getan hatten. »Vikuscha, Vikuscha«, flüsterte er. »Was hast du getan?«
Und dann war es wieder da. Das Chaos. Dieses sichere Gefühl, dass er einen neuen Stoß erhalten hatte und seine Umlaufbahn sich entscheidend ändern würde.
Kapitel 5
T ag und Nacht leuchtete die vergitterte Glühbirne. Und jede Stunde, Tag wie Nacht, schickten sie ein hohes Schrillen über Lautsprecher durch den Flur, das den kurzen Erschöpfungsschlaf zerriss. War es jede Stunde? Zumindest kam es ihm so vor.
Zweimal am Tag schoben sie ihm eine Suppe, in der ein wenig Gemüse schwamm, durch die Luke. Manchmal kullerte ein Stück Brot hinterher. Einmal am Tag schleppte er den stinkenden Eimer zu einer Latrine und kippte ihn aus.
Er wusste nicht, was tagsüber geschah und was
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