Der Geist des Nasredin Effendi
niedrigen Bank, auf der die Ware lag. Links ein Karren, dahinter die Hufe eines Esels, dazwischen ein Haufen Heu.
Ein ungeheurer Drang, aufzuspringen, zu laufen, davonzulaufen, erfaßte den Mann. Sein Blick ging auf einmal wie bei einem gehetzten, in die Enge getriebenen Tier, heiß und kalt überlief es den Körper. Übermenschlich der Wunsch, das auf so wunderbare Weise erhaltene Leben festzuhalten, zu retten. Ein Irrtum des Emirs, eine Unachtsamkeit der Häscher. Das alles war gleichgültig.
Ich lebe! jubelte es in ihm, ich will leben! Und fieberhaft jagten die Gedanken.
Eine Sekunde wurde er sich bewußt, daß er nicht an sein lumpiges Leben gedacht hatte, als sie ihn gebunden zum Richtplatz führten, als er zusehen mußte, wie das Haupt der Geliebten in den Sand rollte. Und es war, als wollte der Schmerz den Mann erneut überfallen. Nilufar – du bist gestorben, weil wir uns liebten. Glaube mir, ich bin dir gern in den Tod gefolgt. Es ist Allahs Wille, muß Allahs Wille sein, daß ich lebe…
Wieder sah er sich erschrocken um. Wie, bei Allah, bin ich vom Richtplatz auf den Basar geraten? Und weshalb sind hier unverschleierte Frauen, ebenso viele wie Männer? Ah, es ist ein Traum, du träumst, Nasreddin, du bist in der Welt der Toten. Einen Augenblick war ihm nach diesem Gedanken leicht.
Ein Granatapfel, der ihm mit ausgestrecktem Arm entgegengereckt wurde, brachte ihn in die momentane Wirklichkeit zurück. Es war ein Apfel aus seinem – weshalb eigentlich meinem? – Bestand, und ihn hielt eine sehr schöne hellhäutige Frau, und der Arm war nackt bis zur Schulter. Diese Frau redete in einer fremden Sprache auf ihn ein.
Der Mann blickte sich noch einmal um, aber nach wie vor zeichnete sich keine Gefahr ab. Mit der Rechten wehrte er die zudringliche Nachbarin ab, nahm den Apfel verwirrt aus der Hand der Frau und sagte sanft und wunderte sich über seine wohlklingende tiefe Stimme: »Ein Akscha.«
Die Nachbarin lachte hell auf, wies mit ausgestrecktem Arm auf den Verkäufer, tippte sich mit der anderen Hand nachdrücklich an die Stirn und ermutigte andere, in ihr schrilles Lachen einzustimmen. »Ein Akscha«, gluckste sie nachäffend mit zahnlückigem Mund.
Verunsichert blickte der Mann, sah auf den Apfel in seiner Hand, in das Gesicht der schönen Käuferin, die dem Geschehen offenbar ebenfalls nicht folgen konnte, und zur Nachbarin.
Da lächelte die Kaufwillige, die zu einer Gruppe eigenartig angezogener hellhäutiger Passanten – zu denen noch viele Frauen gehörten – zählte.
Und als wurde es dem Mann erst jetzt bewußt: In der Tat, die Frauen zeigten ihre Gesichter ohne Scham, als sei es für sie etwas Alltägliches. O Allah! Und er blickte in den Himmel, der blau war, und sah über die niedrigen Schuppendächer jenseits der Straße die schlanke Spitze des Minaretts, eines Minaretts. Ja, bin ich denn nicht in Chiwa? Er blickte die Straße hinunter, und dort sah er, zwischen den Körpern der Leute hindurch, das Eingangstor zur Karawanserei. Also doch Chiwa! Aber das Minarett? Was war geschehen? Die Frauen ohne Schleier, ein falsches Minarett? Also doch tot, in einer anderen Welt.
Aber in einer, die nicht minder schön ist. Und er sah in das Gesicht der Frau und nickte ihr zu.
Die Frau steckte den Apfel in einen Beutel und legte ein braunes, zerknittertes und eingerissenes Scheinchen auf das Brett.
Dann drängten andere aus der Gruppe vor, hielten ebensolche Papierchen oder auch Münzen hin, und der Mann, verwirrt, aber dennoch ein wenig geschmeichelt ob des regen Zuspruchs, verteilte seine Waren mit beiden Händen. Auf das ausgebreitete Tuch purzelten Scheine und Münzen, er achtete nicht darauf.
Er fand zunehmend Gefallen an seinem Tun, begann sogar die Früchte zu preisen, obwohl es nicht notwendig war; und das Gekeife der Nachbarin, die ihm die Pest an den Hals wünschte, belustigte ihn.
Fast jeder der Gruppe nahm etwas. Und als der letzte die letzte Melone erwarb, war kaum eine Viertelstunde verflossen. Lachend und schnatternd zogen sie weiter. Die, die zuerst den Apfel gekauft hatte, hielt dem Händler etwas in Silber und Grün Eingepacktes, das nach Pfefferminz roch, hin und bedeutete ihm, es als Geschenk anzunehmen. Er nahm es, roch daran, und als sie ihm durch Gesten zu verstehen gab, daß es etwas Eßbares sei, nickte er dankend und lächelte.
Der Mann achtete nicht auf das schadenfrohe Gelächter anderer Händler, die seinem Schnellverkauf zugesehen
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