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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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sagte Lina, »die starb ja kurz nach ihm, an einer Lungenentzündung, von der Nachtwache im eiskalten Haus vom alten Oski –«
    »Still!«, zischte Jöri, und nun erzählte ihnen Onkel Bartlomé, wie ihm Schwester Beth von der großen Ruhe im Licht und von der Schönheit geschwärmt habe und wie anrührend es sei, Seelen zu begegnen, die man gepflegt und vielleicht sogar getröstet habe, und wie auch ihre Mutter Wilhelmine –
    »Die Großmutter«, flüsterte Jöri, »unsere Großmutter…«
    – und ihr Vater Otto-Karl –
    »Dein Großvater«, flüsterte Lina und bekreuzigte sich.
    – wie die also alle da seien und doch nicht anwesend die ganze Zeit, aber so, dass man spüre und wisse, sie seien da, ohne dass man sie zu sehen brauche, denn Sehen und Hören und Riechen trete alles in den Hintergrund, man müsse von Erkennen sprechen, man erkenne sich, und auch Wünschen und Sehnen gebe es nicht mehr, es sei nur noch ein Ahnen, und das Vermissen sei zu einem Warten geworden, ein Warten auf die Nächsten, wie der Candid, der ihm gesagt habe –
    Linas Augen blitzten auf. »Der Candid?«
    »Der vom Holderhof«, sagte Jöri.
    – er habe so früh gehen müssen –
    »Abgestürzt, der Wilderer«, murmelte Jöri, »in den Krähenflühen.«
    Lina schneuzte sich.
    – er hätte eigentlich gern gewusst, was aus Linas Ruedi einmal geworden sei –

    »Was geht das den an?«, fragte Jöri, »hast du das gehört?«
    Lina liefen die Tränen über das Gesicht.
    – aber das sei nun alles so weit weg wie Kleider, die man lang schon abgelegt habe, und tue nicht mehr weh –
    Lina schluchzte.
    Jöri stand auf. »Was ist das für ein Sender?«
    Er humpelte zum Herrgottswinkel, um zu sehen, wo der Zeiger auf der Skala des Kofferradios stand.
    »Habt keine Angst«, sagte Onkel Bartlomé, während sich Lina mit dem Schürzenzipfel die Augen trocknete, »da wo ich bin, ist es –.« Die Stimme brach ab, an ihrer Stelle war nur noch ein Rauschen im Lautsprecher zu hören, ein Rauschen und Rumpeln und Rollen, das rasch immer stärker wurde, so stark, dass es alle Ahnen und Hochzeitspaare von der Wand fegte, die Maria im Strahlenkranz hinunterwarf und Jöri an seine Lina drückte, dass es den beiden die Ohren sprengte und sie sich umarmen mussten wie in ihrem ganzen Leben noch nie.

Die Grenze
    E s war kurz vor drei Uhr morgens, als er erwachte.
    Soeben war er im Traum mit einer schwächelnden Taschenlampe durch eine nächtliche Stadt getappt, die vollkommen im Dunkeln lag, und war vor einem riesigen Generator gestanden, der auf einmal mit einem tiefen Brummen ansprang. Von diesem Brummen war er aufgewacht.
    Jetzt stand er im Klo und horchte. Nichts.
    Dann schlüpfte er in den Bademantel, öffnete die Tür seiner Baracke und trat hinaus. Die Sterne flackerten betörend am Himmel, und ringsum lauerte eine Stille, an die er sich noch immer nicht ganz gewöhnt hatte. Die Baracke war Teil des kleinen Camps in der demilitarisierten Zone an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea, und Leutnant Christian Hiltmann aus Basel gehörte zur neutralen Überwachungskommission, welche auf der südkoreanischen Seite dieser Grenze stationiert war.
    Es war windstill, nichts rührte sich, der Wald ringsum stand unbewegt. Als er nach ein paar Minuten immer noch nichts hörte, trat er wieder ein und schloss die Tür ab. Die Nachtluft hatte ihm gutgetan, und er freute sich auf die paar Stunden Schlaf, die ihm noch blieben.
    Kaum hatte er sich hingelegt und die Augen geschlossen, war das Brummen wieder da, oder das, was er für ein
Brummen gehalten hatte, denn nun glich es eher einem tiefen Knarren. Hiltmann machte Licht, sprang aus dem Bett und riss das Fenster auf, doch da war das Knarren schon verstummt. Er ging zum Bett zurück, löschte die Nachttischlampe und trat wieder ans Fenster. Dort blieb er stehen und starrte minutenlang in die Finsternis.
    Ein Tier? Und wenn nicht, was sonst?
    Vor einigen Jahren waren auf südkoreanischem Boden Tunnels entdeckt worden, die aus Nordkorea vorangetrieben wurden und der nordkoreanischen Armee einen Überraschungsangriff ermöglichen sollten. Man zeigte sie heute den Touristen aus aller Welt als Beweis für die Gefahr, die aus dem Norden drohte, doch die Art, wie die Tunnels präsentiert wurden und wie sie begehbar gemacht worden waren, hatte etwas von einem unterirdischen Disneyland. Das Gelächter der Gruppen, die, mit Stiefeln und Helmen ausgerüstet, in einem eigens angelegten Zugangsstollen 70 Meter in die Tiefe

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