Der Geisterfahrer
bleiben, fuhr aber mit dem Klavierspielen fort.
Ein Jahr später lud sie ihr Vater zu einer Reise nach den Iguazù-Fällen an der Grenze zu Paraguay und Brasilien ein. Bianca war überwältigt, ja berauscht von diesem Erlebnis. Auf der Rückfahrt im Auto geschah dann das Unglück. »Der Schweizer Kaufmann Enrique Fasnacht«, so war in der argentinischen Presse zu lesen, »fuhr beim Versuch, einem Lastwagen auszuweichen, der ihm auf seiner Fahrspur entgegenkam, über eine Kurve hinaus, stürzte einen Abhang hinunter und konnte erst Stunden später tot geborgen werden. Seine Tochter, die auf dem Beifahrersitz saß, musste mit Trennscheiben aus dem Wagen befreit werden und wurde mit schweren Verletzungen in das Hospital Nacional von Posadas eingeliefert.«
Biancas linker Fuß wurde im Wagen eingeklemmt, und als man sie schließlich nach stundenlangem qualvollem Warten aus dem Auto zog, mussten ihr im Krankenhaus
die kleineren drei Zehen amputiert werden, zudem kämpfte man gegen eine Blutvergiftung, die sie sich beim Kontakt der offenen Fußwunden mit Schmierfett zugezogen hatte.
Länger als einen Monat musste sie im Hospital bleiben, ihre Mutter reiste aus der Schweiz an, um sie zu besuchen, flog aber, als ihre Tochter außer Lebensgefahr war, wieder zurück, um ihren Verpflichtungen nachzukommen. An der Trauerfeier für ihren Vater konnte Bianca nicht teilnehmen, auch wollten weder die Mutter noch Roberto dabei sein.
Bianca hatte großes Glück. Außer zwei Rippenbrüchen blieb ihr Oberkörper unverletzt, Hände, Arme und Gelenke waren weiterhin Chopintauglich. Die Erleichterung, als sie sich nach vier Wochen in der Cafeteria des Spitals ans Klavier setzte und merkte, dass alles noch funktionierte, war riesig. Später, nach dem Abklingen der Phantomschmerzen, sollte sich als Folge bloß zeigen, dass sie mit dem linken Fuß etwas vorsichtiger auftrat; dies brachte eine kleine Unregelmäßigkeit in ihren Gang, die aber kaum zu erkennen war, und auch das Pedal konnte sie mit den beiden Hauptzehen mühelos drücken.
Doch der Unfalltod ihres Vaters machte ihr zu schaffen. Immer wieder sah sie den Moment, als der Lastwagen auf ihrer Spur auftauchte, weil er einen Traktor überholte, hörte ihren Vater »Verdammt!« rufen und sah ihn das Steuer herumreißen. Und wie sie wieder erwachte, von Schmerzen gemartert, sich nicht drehen konnte, und wie aus dem zusammengequetschten Blech zu ihrer Linken keine Antwort mehr kam, und wie sie dann begann,
so laut sie konnte, »Ayuda!« zu schreien, und die Gewissheit nach endloser Zeit, dass ihr Vater tot war, und dass er tot war, weil er ihr mit dieser Fahrt eine Freude machen wollte, und dass er mit einem Fluch aus diesem Leben gegangen war, all das ging ihr täglich und vor allem nächtlich durch den Kopf, während sie dalag und auf ihre Genesung wartete.
Zuerst war sie allein in einem kleinen Zimmer der Intensivstation, bevor sie dann in einen Raum mit fünf andern Patientinnen verlegt wurde. Wenn sie nachts weinte, kam eine kleine eingeborene Krankenschwester mit einem rundlichen braunen Gesicht an ihr Bett, eine Ordensschwester, die Sor Serena genannt wurde, hielt ihre Hand und betete mit ihr.
Bianca hatte sich nie vorstellen können, dass es einen Gott gab, der alle Menschen auf der ganzen Welt kannte, also auch sie, und hatte nie das Bedürfnis gehabt zu beten. Im Philosophieunterricht, den sie als Freifach besuchte, hatten sie die Gottesbeweise von Spinoza gelesen und die Gegenbeweise von Bertrand Russell, und sie hatte weder dem einen noch dem andern geglaubt und hatte beschlossen, gar nicht erst zu versuchen, es wissen zu wollen. Doch wenn Sor Serena mit ihr das Vaterunser betete, zuerst auf Spanisch, dann auf Guaraní, und dann noch ein ganz persönliches Gebet für sie sprach, in dem sie die Jungfrau Maria jedes Mal wieder mit anderen Worten bat, gnädig auf ihre arme Kreatur Bianca herabzuschauen und ihr beizustehen, fühlte sie sich auf eine Weise getröstet, die sie bisher nicht gekannt hatte.
Dass die zweite Frau ihres Vaters sich nie zeigte und nur
ausrichten ließ, die Reise nach Posadas sei zu weit und der Tod ihres Mannes mache sie unfähig dazu, erstaunte sie nicht. Als sie dann zurückfliegen konnte und eine Nacht bei ihr in Buenos Aires zubrachte, fragte ihre Stiefmutter sie über den Hergang des Unfalls aus, als habe Bianca ihn verursacht. Sonst hatten sie einander nichts zu sagen.
Wieder in Bellinzona, erreichte sie schon bald eine üble Nachricht aus
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