Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluch des Verächters - Covenant 01

Der Fluch des Verächters - Covenant 01

Titel: Der Fluch des Verächters - Covenant 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Donaldson
Vom Netzwerk:
1
     

Goldjunge
     
     
    Sie kam gerade rechtzeitig aus dem Laden, um ihren kleinen Sohn auf dem Bürgersteig unmittelbar im Weg der düsteren, ausgemergelten Männergestalt zu sehen, die in der Mitte des Bürgersteigs dahinstrebte wie ein aufgezogenes menschliches Wrack. Für einen Moment krampfte sich ihr Herz zusammen. Dann sprang sie vorwärts, ergriff ihren Sohn am Arm und zerrte ihn dem Unheil aus dem Weg. Der Mann ging vorüber, ohne den Kopf zu wenden. »Verschwinden Sie!« fauchte sie ihm hinterdrein, als sein Rücken sich entfernte. »Scheren Sie sich fort! Sie sollten sich schämen!«
    Thomas Covenants Schritt blieb ungehemmt, seine Füße schritten so zuverlässig aus, als triebe sie die extra zu diesem Zweck bis zum Äußersten gespannte Feder eines Uhrwerks an. Aber insgeheim fühlte er sich betroffen. Schämen? Schämen? Sein Gesicht verzerrte sich zu einer wüsten Grimasse. Vorsicht! Ausgestoßener! Unrein! Aber er sah selbst, daß die Leute, denen er begegnete – die Menschen, die ihn kannten, deren Namen, Häuser und Arten des Händedrucks ihm bekannt waren –, ihm auswichen, ihm reichlich Platz auf seinem Weg ließen. Einige wirkten, als hielten sie den Atem an. Seine inneren Schreie verstummten. Diese Leute bedurften des alten Rituals der Warnung nicht. Er konzentrierte sich darauf, das sprunghafte Zähnefletschen zu unterdrücken, das sein Gesicht zu verunstalten drohte, und ließ sich durch die straffe Lenkung seiner Willenskraft Schritt um Schritt vorantragen.
    Während er ging, ruckte sein Blick immer wieder an ihm selbst auf und ab, vergewisserte sich, daß seine Kleidung keine unerwarteten Risse oder Fransen aufwies, untersuchte er seine Hände auf Kratzer, überzeugte sich davon, daß nichts an der Narbe geschehen war, die vom Handballen seiner Rechten über die Handfläche bis dahin reichte, wo sich die beiden äußeren Finger befunden hatten. Er wußte noch haargenau die Worte der Ärzte. ›VBG, Mr. Covenant. Visuelle Beobachtung der Gliedmaßen. Davon hängt Ihr Überleben ab. Die abgestorbenen Nerven werden sich nicht regenerieren – Sie werden's nicht merken, wenn Sie sich verletzen, solange Sie es sich nicht zur Gewohnheit gemacht haben, ständig nachzuschauen. Tun Sie's unaufhörlich. Denken Sie immer daran. Bei jedem nächsten Mal könnten Sie weniger Glück haben.‹ VBG. Diese Abkürzung bedeutete jetzt sein Leben. Die Ärzte! dachte er voller Sarkasmus. Aber ohne sie hätte er womöglich nicht einmal so lange überlebt. Er wäre in Unkenntnis des vollen Ausmaßes seiner Gefährdung geblieben. Mangel an Selbstbeobachtung hätte ihn umbringen können.
    Angesichts der bestürzten, furchtsamen oder achtlosen Mienen – er sah viele achtlose Mienen, obwohl der Ort so klein war –, an denen er vorüberkam, wünschte er, dessen sicher sein zu dürfen, daß das eigene Antlitz den angemessenen Ausdruck von Hochmut zeigte. Doch die Nerven in seinen Wangen besaßen anscheinend nur noch schwache Spuren von Leben, wenngleich die Ärzte behauptet hatten, das sei nur eine im gegenwärtigen Stadium seiner Krankheit übliche Sinnestäuschung, und er könne der Fassade, die er zwischen sich und die Welt schiebe, niemals voll vertrauen. Innerlich allerdings erlebte er nun, da Frauen, denen es einmal gefallen hatte, in ihren literarischen Zirkeln seinen Roman zu diskutieren, vor ihm zurückschraken wie vor irgendeiner Art geringerer Greulichkeit oder einem nekromatischen Friedhofsgärtner, Aufwallungen eines Gefühls des Verratenseins und Verlusts. Rücksichtslos erstickte er sie, ehe sie ihn aus dem Gleichgewicht zu werfen vermochten.
    Er näherte sich seinem Ziel, dem Angelpunkt seines Akts der Selbstbehauptung oder seiner Demonstration, den er so grimmig ins Auge gefaßt hatte. Zwei Häuserblocks weiter erblickte er das Schild: Bell Telephone Company. Er lief die zwei Meilen von der Haven Farm in die Ortschaft, um seine Telefonrechnung zu bezahlen. Natürlich hatte er den Betrag überweisen können, aber er beharrte darauf, in einer Überweisung eine Kapitulation zu sehen, ein Zurückweichen vor der Isolation, in die man ihn immer stärker zwingen wollte.
    Im Laufe seiner Behandlung hatte seine Frau Joan sich von ihm scheiden lassen; sie war mit ihrem Söhnchen in ein anderes Bundesland verzogen. Der einzige Besitz, auf dessen Anrecht er Interesse angemeldet und den sie trotzdem zu vereinnahmen gewagt hatte, war das Auto gewesen; sie nahm es ebenfalls mit. Ihre Kleidung ließ sie

Weitere Kostenlose Bücher