Verbotene Sehnsucht
Prolog
Devonshire, 1852
A m Morgen des achtzehnten Geburtstags von Millicent »Missy« Armstrong, den diese sehnlichst erwartet hatte, merkte James Rutherford, dass es eine völlig falsche Entscheidung gewesen war, sie zu begleiten. Aber jetzt ließ es sich nicht mehr ändern.
Wenn sie die Viertelmeile von den Ställen bis Stoneridge Hall nicht zu Fuß zurückgelegt hätten, wäre sie weder gestolpert noch gestürzt und er nicht in die Verlegenheit gekommen, ihr beim Aufstehen behilflich sein zu müssen. Ebenfalls wäre vermieden worden, dass sie ihn mit sich riss und er auf ihr landete, dass sie ihre schlanken Arme eng um seinen Nacken schlang und seinen Kopf zu sich hinunterzog, um ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen zu drücken, die er vor lauter Überraschung auch noch öffnete.
Verflucht! Genau das war die Art der Verführung, die er sich auf keinen Fall leisten konnte, und er hatte sein Bestes versucht, das alles zu vermeiden, als das Schicksal in Gestalt dieses Mädchens wie ein stürmischer » Wirbelwind« auf ihn zuraste und ihn zu verschlingen drohte. Eine nunmehr erwachsene Missy, die immer noch unter heftigen Anfällen ihrer langjährigen Verliebtheit zu ihm litt und zugleich auf den Heiratsmarkt drängte, versprach eine Zukunft voller Probleme und Fallgruben– und in eine davon war er soeben hineingestürzt. Allerdings weich aufgefangen durch mehrere Meter Musselinstoff und eingehüllt in eine sanfte Wärme, wie nur eine Frau sie ausstrahlen konnte.
Ein paar beschämende oder vielleicht schamlose Sekunden lang unternahm er keine Anstalten, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, ganz anders als er es als Freund ihres Bruders hätte tun sollen– zumindest wenn er diese Freundschaft nicht gefährden wollte. Stattdessen genoss er den Hauch ihres warmen Atems auf seiner Wange und die Sanftheit ihrer begierig forschenden Lippen. Und stellte fest, dass sie schwach nach Flieder duftete. Doch die schlimmste Entdeckung betraf seine eigene Reaktion, denn unter dem Verschluss seiner Reithosen drängte sich unabweisbar etwas in den Vordergrund und in sein Bewusstsein.
Was zum Teufel erlaubte er sich da eigentlich? Armstrong würde ihn in tausend Stücke reißen, wenn er wüsste, welche Gedanken James in diesem Moment bezüglich seiner Schwester durch den Kopf schossen. Zischend atmete er aus, und ein gequältes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Der süße Geschmack ihres Kusses lag noch auf seinen Lippen, als er sich fast widerstrebend von ihr herunterrollte und sich mühsam erhob. Nie zuvor hatte sich der Boden unter seinen Füßen so schwankend angefühlt und er so unsicher auf seinen Beinen gestanden.
Rasch kehrte er ihr den Rücken zu, sog die kühle Aprilluft zitternd in seine Lungen und ließ den Blick über die sanften Hügel von Dartington schweifen. Weit und breit keine Menschenseele, was ihn ein wenig beruhigte: Zumindest gab es für den Kuss keine Zeugen. Inständig wünschte er sich, wieder ruhiger atmen zu können, doch seine erwachte Männlichkeit machte es ihm schier unmöglich.
Allein das Geräusch, das sie beim Aufstehen verursachte, führte dazu, dass sein Blut schneller durch seine Adern floss und in seinen Ohren ein Rauschen verursachte. Und dann ihre Hände, als sie sich rasch das feuchte Gras und den Schmutz von ihrem grün gemusterten Tageskleid klopfte…
» James?« Der Name kam ihr nur stockend über die Lippen, und es klang so, als würde in dieser einen Silbe die ungestillte Sehnsucht ihres ganzen bisherigen Lebens verborgen liegen.
Er schloss kurz die Augen, litt stumm unter seinem schlechten Gewissen. Nur zu gut konnte er sich die Wehmut in ihrem Blick vorstellen und das leichte Zittern ihrer rosigen Unterlippe. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Jackett seine Erregung angemessen bedeckte, verzog er unwillig den Mund und drehte sich herum zu ihr, um sie anzuschauen.
» Ich dachte, dass du es mögen würdest, wenn ich dich küsse. Dass du es vielleicht sogar willst.« Unter langen, kohlrabenschwarzen Wimpern traf ihn ein atemberaubender Blick aus blaugrauen Augen, und in ihrer Miene las er eine zu Herzen gehende Verletzlichkeit.
Es ließ sich nicht entschuldigen, wie er auf sie reagierte. Schlicht und einfach verwerflich. Sie war unerreichbar für ihn. Das hatte Armstrong ihm unmissverständlich klargemacht, als er von ihm verlangte, ihr aus dem Weg zu gehen, zumindest während ihrer ersten Saison in der Gesellschaft. Dass sie in ihn verliebt war,
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