Der Geisterfahrer
spielen durfte, so viel sie wollte. Das machte ihr die Ferienaufenthalte, über deren Pflichtmäßigkeit sie gerade begonnen hatte sich zu beklagen, wieder angenehmer, obwohl ihr die neue Frau des Vaters nicht sympathisch war, sie war dessen Sekretärin gewesen und wollte nun, so kam es Bianca vor, die Dame von Welt spielen, die sie in keiner Weise war. Wenigstens gab es keine Halbgeschwister, und so hatte der Vater niemanden zum Vergöttern als seine eigenen Kinder. Wo immer er mit seiner schönen und begabten Tochter auftauchte, erntete er Bewunderung, und es blieb nicht
aus, dass er, wenn sie da war, zu kleinen Soiréen einlud, bei denen Bianca dann ein paar Klavierstücke zum Besten zu geben hatte. Ihre Lieblinge waren Chopin und Scarlatti.
Ihr Vater gab sich Mühe, kleinere Ausflüge in die Umgebung zu machen, ins Delta des Rio de la Plata, wo naturkundliche Bootsfahrten angeboten wurden, oder nach Luján, der Stadt mit der angeblich schönsten Kathedrale Argentiniens, aber am liebsten ging Bianca im nahe gelegenen Friedhof spazieren, einem Friedhof, der viel eher eine Totenstadt war, mit Grabkapellen und Familienruhestätten, die kleinen Villen glichen, und in dem man sich mühelos verlaufen konnte. Mit Vergnügen hörte sie sich jeweils auch eines der Tangokonzerte an, welche die Banda Sinfónica an Sonntagen im Pavillon eines Parkes gratis spielte.
Doch flog sie immer wieder gern in die Schweiz zurück und freute sich auf ihre Orgelstunden in der Collegiata in Bellinzona. Immer klarer zeichnete es sich ab, dass sie sich nach Abschluss des Gymnasiums zur Pianistin ausbilden würde. Der Ernst, mit dem sie sich der Musik widmete, ließ auch ihre Mutter nicht daran zweifeln, obwohl sie wusste, welche Schwierigkeiten einen im Berufsleben erwarten konnten.
Vorerst kamen ganz andere Schwierigkeiten auf Bianca zu. Es fiel ihr auf, dass an den Nachmittagen, an denen sie allein auf der Orgel übte, oft ein Geistlicher in einer der Kirchenbänke saß. Sie maß dem keine besondere Bedeutung zu, bis er eines Tages, als sie von der Empore herunterkam, unten an der Treppe stand und sie höflich begrüßte .
Es war ein junger Vikar, der ihr sagte, wie sehr er die Musik von Bach liebe und wie sehr ihm die Art und Weise gefalle, wie sie diese interpretiere. Bianca fühlte sich geschmeichelt, und nun stand er öfters unten an der Treppe, wenn sie ihr Spiel beendet hatte, und versuchte sie in ein Gespräch zu ziehen. Eines Nachmittags jedoch, als sie den Rolldeckel des Manuals heruntergezogen und abgeschlossen hatte, stand er unvermutet hinter ihr und schloss sie heftig in seine Arme. Bianca war so erschrocken, dass sie etwas zu lange wartete, bis sie den Kuss seiner halb geöffneten Lippen abwehrte. Dann sagte sie entschieden, sie komme hierher zum Orgelspielen und zu nichts anderem, wand sich aus seinen Armen, hastete die Treppe hinunter und verließ die Kirche. Als sie die schwere Tür hinter sich schloss und ins blendende Sonnenlicht hinaustrat, blieb sie aufatmend stehen, bevor sie sich mit erzwungener Langsamkeit auf den Heimweg machte.
Sie war verwirrt, und was sie in den nächsten Tagen vor allem irritierte, wenn sie über den Vorfall nachdachte, war ihre mangelnde Empörung. Die Dreistigkeit und die Leidenschaft des Vikars hatten in ihr eine seltsame Neugier erweckt, und gerade das Ungehörige und Aussichtslose dabei zogen sie an. So kam es, dass sie die Einladungen des gleichaltrigen Flötisten ausschlug und sich an ihren Orgelnachmittagen mit dem Geistlichen traf. Auf der Empore zunächst, und dann gab es dort noch eine kleine Materialkammer.
Sie entdeckte in sich auch eine Fähigkeit, ein Geheimnis für sich zu behalten, die sie selbst erstaunte. Was sie zu verbergen hatte, überspielte sie mit kleinen Lügen oder
mit einem verschwiegenen Lächeln, etwa wenn ihre Mutter, die etwas ahnte, sie fragte, ob sie verliebt sei.
Gewisse Dinge allerdings können nicht verborgen bleiben, und als sie in diesem Sommer nach Buenos Aires reiste, brachte sie ihr Vater dort in eine gynäkologische Privatklinik, wo man ihr das unerwünschte Leben entfernte. Zehn Tage später entzückte sie eine Abendgesellschaft bereits wieder mit einer Chopin-Sonate.
Als Bianca nach Bellinzona zurückkam, war der Vikar verschwunden, in die Mission nach Afrika, hieß die Auskunft auf vorsichtige Nachfragen, und verschwunden war auch ihre Freude am Orgelspiel. Sie ließ sowohl ihre Orgelstunden als auch ihre Nachmittage in der Collegiata
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