Der Geisterfahrer
ließen sich wieder nicht blicken. Sie spielten mit ihnen Katz und Maus.
Der Leutnant hob den Kopf. Ein tiefes, leises Knurren
drang aus dem Wald hinter den Büschen. Erst jetzt merkte er, dass keine Vögel mehr sangen, der Tag hatte begonnen. Der Tiger, so es denn einer war, musste etwa auf derselben Höhe sein wie er. Sinnlos also, sich weiterzubewegen, aber wohl ebenso sinnlos, so sagte er sich jetzt, zu erwarten, der Tiger käme irgendwann so nahe zum Zaun, dass man ihn sehen könnte. Trotzdem mochte er nicht aufgeben.
Da kam ihm eine Idee. Er öffnete seinen Rucksack, schnitt sich mit der einzigen Waffe, die ihnen gestattet war, mit seinem Offiziersmesser eine Scheibe Brot ab, fuhr dann mit der Klinge in die vakuumierte Packung und legte sich ein Stück Schinken darauf. In Ruhe aß er das Schinkenbrot, trank dazu etwas Wasser aus seiner Flasche und machte sich dann ein zweites Brot. Nachdem er auch dieses verzehrt hatte, nahm er die geöffnete Schinkenpackung in die Hand und trug sie, langsam weitergehend, vor sich her, schwenkte sie dabei ein bisschen, damit sich der Geruch besser entfalten konnte. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und horchte hinüber. Einmal schien ihm, er habe einen knackenden Zweig gehört, doch um den Tiger bis zum Zaun zu locken, brauchte es offensichtlich mehr.
Er schaute den Kratzer auf seinem Handballen an und trieb dann die Haut so auseinander, dass er wieder zu bluten begann. Mit der linken Hand die Schinkenpackung schwenkend, die rechte, aus der das Blut tropfte, ausgestreckt vor sich hin haltend, setzte er sich langsam wieder in Bewegung.
Der Ruf von hinter dem Zaun überraschte ihn. Unvermutet hatte sich eine schmale Lichtung geöffnet, darin
stand ein kleines Wachhaus, und vor dem Wachhaus ein nordkoreanischer Soldat mit einem umgehängten Gewehr.
Erneut rief ihm der Soldat in scharfem Ton etwas zu, und Leutnant Christian Hiltmann rief zurück »Neutral Nations Supervisory Commission! Switzerland!«. Als der Wachmann seine Waffe in Anschlag brachte und auf ihn richtete, hob Hiltmann seine Hände in die Höhe, die linke mit der Schinkenpackung, die rechte mit dem Blut am Handballen. Eine Sekunde überlegte er sich, ob er sich umdrehen und fliehen sollte, merkte aber, dass seine einzige Chance war, sich nicht zu rühren. Nein, dachte er, der wird nicht schießen, der darf nicht schießen, auf einen neutralen Schweizer auf der andern Seite der Grenze, das ist gegen die internationalen Abkommen, das käme ins Protokoll der Verletzungen, er setzte nochmals zu »Neutral Nations!« an, aber die Wörter blieben ihm im Hals stecken, als er sah, wie ihn der andere durch sein Zielfernrohr ins Visier nahm.
Da ließ das Gebrüll des Tigers den Wald erzittern, der Soldat ließ das Gewehr fallen, drehte sich um und sprang mit einem Satz in sein Wachhaus zurück.
Den Anblick, wie der sibirische Tiger gelassen und geschmeidig die Lichtung überquerte, kurz am Gewehr des Soldaten schnupperte und dann lautlos im Gebüsch verschwand, würde Leutnant Christian Hiltmann nie mehr vergessen.
Schnell rannte er in Deckung, trat dann so rasch wie möglich den Rückweg an, indem er sich immer wieder versicherte, dass nördlich des Zauns nur Büsche und
Bäume waren, und wunderte sich, wie weit er auf dem verbotenen Pfad gegangen war.
Am Abend schrieb er auf dem Formular des Tagesrapports unter »Besondere Vorkommnisse«: Keine .
Bianca Carnevale
M it siebenundzwanzig hatte sie ein eigenartiges Leben hinter sich.
Geboren in Buenos Aires als erstes Kind eines Schweizer Fleischhändlers und einer italienischen Sängerin, wuchs sie zusammen mit einem jüngeren Bruder in Argentinien auf und besuchte dort bis zu ihrem zehnten Lebensjahr die deutsche Pestalozzi-Schule. Dann kam es zur Scheidung der Eltern, und die Mutter, welche nach ihrer Heirat die Schweizer Staatsbürgerschaft angenommen hatte, zog mit den beiden Kindern nach Bellinzona im Tessin.
Dort schickte sie ihre Tochter zuerst in die Primarschule und dann ins Gymnasium. Da sie mit ihr stets italienisch gesprochen hatte, bereitete dieser die sprachliche Umstellung keine Mühe, wohl aber die menschliche. Sie hatte zum Geschlechtsnamen des Vaters einen italienischen Vornamen und hieß Bianca Fasnacht, was schon bei ihrem ersten Schultag in Bellinzona für Gelächter sorgte. Die zwei Deutschschweizer Mädchen in der Klasse nannten sie sogleich Bianca Carnevale, und dieser Übername blieb ihr. Er war wohl auch aus Eifersucht entstanden, denn
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