Der Gerechte
alles eingebildet hatte.
Nein, sie war geblieben.
Fahl wie das Mondlicht. Er konnte nicht sagen, ob sie den Boden berührte oder darüber schwebte. Alles war so anders geworden, so fremd, unheimlich, rätselhaft und erwartungsvoll. Raniel merkte, daß das Gefühl der Angst allmählich aus seinem Innern wich. Beim ersten Augenkontakt mit der Erscheinung hatte er so etwas wie eine große Gefahr gespürt, die es nun nicht mehr gab. Sie hatte sich zurückgezogen. Statt dessen spürte er die Erwartung, die in seinem Innern hochkochte. Er fühlte sich gut, möglicherweise schon unbesiegbar, jedenfalls stand er auf der untersten Stufe der Leiter der Euphorie, und er mußte einige Male tief Luft holen, um sich wieder fangen zu können und den Druck abzuschütteln. Er wollte die Realität haben, er wollte sich mit ihr auseinandersetzen und sich nicht in irgendwelchen Träumen verlieren.
Der Mann nickte.
Er hatte der Erscheinung ein Signal gegeben, die diese auch sehr schnell begriff.
›Du bist der Bote!‹
Wieder hatte der Engel in Rätseln gesprochen. Seine Botschaft klang nur in Raniels Gehirn nach. Sie war mit dem Gehör überhaupt nicht zu vernehmen.
Doch er hatte es geschafft, sich besser zurechtzufinden und den ersten großen Schock überwunden. Ihm war auch klargeworden, daß ihm von dem namenlosen Engel keine Gefahr drohte und daß er ein besonderer Mensch sein mußte, der unter Millionen anderer ausgesucht sein mußte, um eine Aufgabe zu erfüllen.
Das machte ihn stolz. Es gab nur den Engel und ihn. Die Luft war eine andere geworden. Sie hatte sich aufgeladen, sie knisterte leicht, aber Funken waren nicht zu sehen. Statisch aufgeladen, und Raniel spürte das Kribbeln, das über seine Haut rann und dabei nichts ausließ. Weder die Arme oder die Beine noch das Gesicht oder den Rücken. Sie war da.
Er holte tief Luft, stand seinem Schicksal gegenüber. Er bewegte sich in seine Richtung.
Der Engel schimmerte.
Erst jetzt stellte Raniel fest, daß es nicht nur seine Konturen waren, die wie mit einem dünnen Pinsel gezeichnet wirkten, auch innerhalb dieses Umrisses tat sich etwas. Da sah er sehr genau das Zucken und Flimmern, das Zurückweichen, das Vorschnellen, die Bewegung, die elektrische Aufladung.
Der Engel stand ruhig, befand sich jedoch in einer immerwährenden Bewegung in seinem Zentrum.
Auch hatte sich die Luft von der Temperatur her verändert. Sie kam ihm schärfer und kälter vor, wie nach einer Entladung. Er konnte das Ozon sehr gut riechen.
Der Engel hatte die Botschaft zu überbringen gehabt, er würde auch nicht davon weichen.
Ein Gesicht gab es bei ihm nicht. Auf Bildern waren Engel mit einem überfrommen Gesichtsausdruck ausgestattet worden, wenn sie erwachsen waren. Als Kindgeschöpfe sah man sie meist niedlich, pausbäckig, fast nackt und mit kleinen, kitschigen Flügeln versehen. Auch wirkten Engel stets geschlechtslos. Dieser hier war völlig anders, da er aus feinstofflicher Materie bestand.
»Was willst du von mir?« Raniel wunderte sich, wie glatt die Worte über seine Lippen drangen.
›Dich!‹
Er schluckte. Angst und Sorge trieben in ihm hoch. Sein Blick flackerte. Die Antwort hatte ihm nicht gefallen. Sie hatte so endgültig geklungen, als stünde alles schon fest, als sollte er von der Erscheinung übernommen werden. Er schwitzte plötzlich, traute sich aber nicht, das Tuch hervorzuholen und damit über seine Stirn zu wischen. So liefen dann die Schweißperlen vom Beginn des Haaransatzes nach unten und rannen in dünnen Bahnen über seine Wangen.
»Aber ich…«
Der Engel ließ ihn nicht aussprechen. ›Du wirst ich, und ich werde du, Raniel.‹
Wieder hatte er in Rätseln gesprochen, und der Mann war nicht in der Lage, einen Kommentar zu geben. Seine Kehle saß zu, er räusperte sich, er schluckte, und er merkte die drückende Angst, die in ihm steckte. Die Sache war noch nicht ausgestanden. Raniel wußte nur, daß er sein bisheriges Leben würde abhaken können.
Er nickte. Es war nicht bewußt gewollt, mehr eine automatische Aufforderung, die der Engel jedoch gern annahm, denn er ›sprach‹ weiter.
›Ich bin gekommen, um dich zu mir zu machen. Wir beide werden miteinander ein Leben teilen, und ich werde immer an deiner Seite sein. Ich werde dich zu einem Mythos aufbauen, vor dem diese Welt bald das Fürchten lernt. Ich bin dein Bote, aber du bist ein Mensch, und man wird dich bald kennenlernen. Du wirst deinen Namen nicht vergessen, doch ein anderer, ein neuer wird
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