Der Gesang der Haut - Roman
lang befürchtet habe. Henrietta spielt Akkordeon, man nähert sich ihr, man ruft aus, wie hübsch ihr Spiel, was für ein netter Ausklang des Abends! Es soll dabei bleiben, ich werde mich nicht beklagen, sie nicht anzeigen. Mit geschlossenen Augen und gar nicht schlecht spielt sie die Melodien ihrer Vergangenheit, und aus der Musik erscheint eine feine Henrietta auf der Bildfläche, ein junges Mädchen, das Gert Gerlach verliebt ansieht, verliebt, amüsiert. Für ihren Gert aber muss ich jetzt auf dem Zementboden meine Kräfte sammeln, bei ihm ist Gefahr im Verzug. Ich versuche es mit Zauberkraft, mit Zaubersprüchen, mit Beten, ja. Gert ist in den ersten Stock gegangen, hat sich im Bad eingesperrt, er holt aus der Tiefe einer Schublade einen kleinen Schlüssel, öffnet den Medikamentenschrank und schüttelt ein Fläschchen, genug, um die ganze Gesellschaft unter den Fenstern in Jenseits zu schicken. Ich ahne seit Stunden, was er vorhat, rufe ihm stumm zu, er muss noch aushalten und seine Mord- und Selbstmordpläne verschieben, ach Viktor, wie ohnmächtig fühle ich mich, Henriettas Krankheit kann man nicht mehr heilen, flüstere ich ihm zu, aber es gibt vernünftige Behandlungen, mit Doktor Hettsche, mit dem Neurologen muss er sprechen, Henrietta und er sind ein Paar, er soll sie nicht aufgeben, niemals, er muss auch an Klara denken, Klara, sein neues Lebensziel, seine neue Lebensrechtfertigung, er wird ihr helfen, das zu werden, was sie schon ist, er wird nicht ihr Liebhaber sein, Viktor, nur ihr Gönner, ich setze also meine ganze Kraft ein, dass Gert seinen zynischen Plan für den letzten aktiven Tag verwirft, ich flüstere ihm ins Ohr, dass kein Skandal, keine Schande es wert sei, sein Leben und das seiner Frau wegzuwerfen, und, glaubst du mir? Er macht den Schrank zu, betrachtet eine Weile den Inhalt eines Schuhkartons, dreht eine Eintrittskarte zum Mont St. Michel um, entdeckt noch ein Sandkorn in einer Muschel, liest eine Ansichtskarte, Henriettas Schrift hat sich kaum verändert, und er lächelt bei einem selbst gezeichneten Akt. Dann versteckt er den Schlüssel wieder, atmet tief ein und schaut auf Henrietta, vom Fenster aus, Henrietta, die verträumt spielt und Florian zulächelt, sie blinzelt ihm zu, dem Musikerkomplizen, suchen wir nicht alle einen Komplizen, mein Viktor? Er betrachtet sie vom Fenster, seine so vielgesichtige Frau, nur ein starkes Schmerzmittel wird er ihr heute verabreichen, sie soll gut schlafen können, und morgen geht er einfach mit seinen Nachbarn Golf spielen. Und vielleicht wird sie ihn dort abholen, aus Angst, er treffe sich mit einer Moira, einer Klara. Es wird keine Polizei, keinen Leichenwagen, nicht mal einen Krankenwagen geben, oder nur für mich.
Ich fühle mich wohl und höre Gesprächsfetzen, Floskeln, ein Garten so voller Floskeln wie Lampions, die Floskeln hängen in der Dunkelheit wie Leuchtwürmer und drehen sich da über den Köpfen im Dunst der Plappermäuler. Wie beruhigend.
Henrietta spielt jetzt einen kleinen Walzer, immer langsamer, melancholisch und nichtssagend, das passt zur letzten Stunde der Nacht, zur angenehmen Müdigkeit der übriggebliebenen Paare, die sich träge drehen und leise lachen. Es sind immer noch einige Raucher am Brasero, die Frau eines Internisten sagt einer jüngeren Augenärztin, es sei gut, wenn man sich nur einmal pro Jahr begegne, so habe man wenigstens etwas zu erzählen, es sei ja in der Zwischenzeit immer etwas Erzählenswertes passiert. Die Augenärztin erwidert, im Grunde genommen sei es nichts Erzählenswertes, was den Wert des Lebens ausmache, das Alltägliche sei schön, weil nicht fassbar. Die Frau des Internisten klagt, dass der Alkohol sie schwer von Begriff mache, sie wisse nicht, was die Augenärztin meine, ein Wert kann nicht aus Nichtswürdigem bestehen, oder? Sie fragt Herrn Fischer, der angewurzelt dasteht, ob er nicht mir ihr tanzen wolle, anstatt Trübsal zu blasen. Er sagt ja, oh ja, gern. Ich wünsche ihm, er verliebe sich, anstatt Säuerliches um sich zu sprühen.
Du rufst den Notdienst an. Ich presse die Zähne zusammen. Bei dir, Viktor, meiner Liebe auf den ersten Blick, will ich nicht mogeln, nichts schönreden, will dich deinem Schicksal überlassen, gar nicht so schlimm, was dich erwartet: Klara hat dich für Florian verlassen, heute Morgen schon wird sie ihre Sachen bei dir holen, bevor sie mit ihm nach Königstein zurückfährt. Haben wir dir beide, Klara und ich, nicht bewiesen, dass du weiter und
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