Der Gesang der Haut - Roman
und seine zukünftigen Patienten. In düsteren Zeiten überschlägt sich die Lust an Licht, diagnostizierte sein Vater mit tiefer Stimme. Und Sophie, die als Verfechterin der Sparlampen die von Weihnachtsfans vergeudete Energie bekämpfte, lachte hell.
Noch trug Viktor seine Familie im Kopf.
Der Schlangenweg war eine Sackgasse, die nach dreihundert Metern in einen Waldweg überging. Kies knirschte unter Viktors Sohlen, er freute sich darauf, bald in seinen Mittagspausen hierher joggen und spazieren gehen zu können, falls er mit Doktor Gerlach einig werden sollte. So würde er weniger den Taunus vermissen, wo er so viele Sonntagswanderungen gemacht hatte. Das nahe Grün war kein Argument für den Kauf einer Praxis, jedoch winkten die Fichten, Ahorne und Kiefernzweige Viktors Wandererherz zu. Weit oben erahnte er die schwarzen Kronen der Bäume, hörte ein Flüstern, ein Seufzen schlafender Riesen. Hoffentlich klappte es mit der Übernahme der Praxis. Er wunderte sich, woher er sein Selbstbewusstsein nahm, diese neue Tapferkeit, ja, ich bin tapfer, jubelte er, ich bin bereit, ein neues Leben anzufangen, meine Eltern hinter mir zu lassen, meine Jugendjahre, die Stadt, in der ich studiert habe, die Exkommilitonen, die Kollegen der Klinik, ich bin ein zweiunddreißigjähriger Doktor der Dermatologie und werde meine Zukunft aufbauen, ohne Hilfe meines Vaters. Mein eigener Wille. Ja aber, murmelte auf einmal die gesamte Sippe plus Klara. Er schüttelte sich und gab Fersengeld. Es war Zeit. Er lief zurück, fühlte sich wieder begrüßt von den beleuchteten Bambis und Lichttannen und fand sich Punkt neunzehn Uhr wie verabredet vor der Praxis von Doktor Gerlach ein.
Breit und grau war die Frau, die ihm die Tür öffnete und sich als Frau Gerlach vorstellte. Sie überragte Viktor um einige Zentimeter. Er senkte schnell den Blick, als ihm bewusst wurde, dass er ihr Gesicht zu aufdringlich erforschte, den fahlen Teint, das Lächeln, das eine Kerbe in ihre Haut ritzte. Aus dem ergrauten Haar tanzten ein paar Strähnen aus der Reihe, sie flatterten an den Wangen wie ehemalige Schmachtlocken, von denen bloß noch matte Erinnerungen übrig waren. Die grüngrauen Augen unter den Lidern zeichneten zwei Halbmonde. Sie brachten kein Gefühl zum Ausdruck, und doch bewirkte der Blick Sonderbares: Er färbte auf sein Gegenüber ab. Viktor spürte, wie er ihn erreichte und durchdrang und wie sich etwas in ihm sumpfgrün niederlegte. Die Frau war weder hässlich noch schön, sie erinnerte ihn vage an eine Schauspielerin, Charlotte Rampling, die er mit Klara in dem Film »Unter dem Sand« von Ozon gesehen hatte. Frau Gerlach aber war nicht so schlank, ihre schweren Hüften umhüllte ein pelziger Rock, eine altmodische Seidenbluse mit Schleifen warf glänzende Wellen auf den Brustkorb.
Kommen Sie herein, Herr Doktor Weber, mein Mann wird gleich da sein. Er kümmert sich eben um die letzte Patientin des Tages. Haben Sie leicht hierher gefunden? Sie schien nicht daran interessiert zu sein, eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten.
Diese Frau werde ich nur dieses eine Mal sehen, dachte er, höchstens noch beim Notar, wenn wir das Geschäft abschließen. Hier am Empfang, sagte sie, ist leider alles ein bisschen eng. Hinter der Theke sitzen sonst zwei Damen. Frau Silvia Ritzefeld habe ich vor einer halben Stunde nach Hause geschickt. Sie ist seit Jahren eine große Stütze für meinen Mann. Fräulein Marion Haas hat heute Schule. Sie ist im letzten Jahr ihrer Ausbildung und macht Ende Februar die Prüfung. Auch sie eine vielversprechende Hilfe. Die beiden werden jetzt Urlaub machen, hier aufräumen, mal sehen, bis Sie übernehmen, falls Sie übernehmen. Wir bezahlen weiterhin ihr Gehalt, bis Sie die Praxis wieder eröffnen, falls Sie eröffnen. Frau Gerlachs zarte Stimme wirkte wunderlich angesichts ihrer massiven Erscheinung. Man hörte ein Tremolo mitschwingen, als rührten bei jeder Vibration die Stimmbänder in traurigen Gefühlen. Hier ist die Garderobe. Wenn Sie Ihren Mantel ablegen wollen. Viktor trug keinen Mantel. Er hängte seine Jacke selbst an den Kleiderhaken. Ja, die Diele sei ein bisschen eng, aber das kenne man von vielen Praxen, sagte er. Links, fuhr Frau Gerlach fort, kommen Sie ins Wartezimmer. Patienten, die ein Rezept abholen, warten hier: Sie zeigte auf ein paar Stühle neben der Garderobe. Alles ein bisschen mickrig hier, flüsterte Klaras Stimme. Und Viktors Mutter: Mein Gott, was haben diese Leute für einen
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