Der Gesang der Haut - Roman
Viktor kannte es nicht. Vater hat recht, ich muss mich bilden, mehr Zeit für Kunst opfern. Opfern ist das falsche Wort, würde Doktor Weber senior spotten. Was werden seine Eltern zu der Trennung von Klara sagen, die Schwiegertochter in spe trug schon den Verlobungsring seiner Mutter, die ihn bei einem gepflegten Familienessen Klara überreicht hatte, keine offizielle Verlobung, nein, eher eine sentimentale, leicht theatralische Aktion seiner Mutter.
Die Zuhörer badeten versonnen in der Melancholie des Liedes. Viktor spürte, wie ihm die Tränen hochstiegen, wie taktlos von Klara, gerade dieses Trauerlied ausgewählt zu haben und es jetzt vorzutragen, wo die Feier kaum angefangen hatte. Gerlachs Gäste schienen aus einer uralten Verzauberung zu erwachen, als Gerlach eine »kurzweilige Ansprache« ankündigte und dabei ein verrücktes Lachen ausstieß, ein Lachen, das niemand zu deuten wusste.
Liebe Freunde, ich erlaube mir eine Zäsur zu setzen, da jetzt noch der letzte erwartete Freund eingetroffen ist und, bevor ihr euch alle diese Köstlichkeiten weiter munden lasst und wir anschließend weitere Lieder unserer wunderbaren Sängerin hören, möchte ich euch einige Worte des Dankes sagen, keine Angst, es ist im Nu vorbei:
Ja, liebe Freunde und Kollegen, ich danke euch, dass ihr unserer Einladung gefolgt seid, um mir damit über die fragwürdige Zeit des Abschiednehmens hinwegzuhelfen. Meine Praxis ist jetzt in guten Händen, in jungen und klugen Händen, Herr Doktor Weber wird für Sie da sein (einladende Geste zu Viktor, alle Gesichter kurz zu Viktor gedreht, dann wandten sich alle gleichzeitig wieder zu Gerlach). Man munkelt allerlei (Gerlachs Stimme nahm einen ironischen Unterton an, während er auf seine Frau schielte), unter anderem, mein Hirn schmelze in sich zusammen (großes Gelächter), ich tauche, behaupten einige, in eine dunkle Nacht, glaube es, wer will, nicht wahr, Raimund? (Doktor Hettsche lächelte, scheinbar überrascht, schüttelte zögernd den Kopf). Welche Nacht aber, liebe Freunde, könnte dunkel genug sein, um all meine Verbrechen zu verbergen?
Man hörte wieder einige Leute kichern oder sogar lachend bestätigen, ja, ja der Gerlach ist wieder dabei, uns einen Bären auf die Nase zu binden. Was führt er im Schilde?
Schnell, schnalzte Gerlach mit der Zunge, ja, schnell ist ein Leben vorbei, liebe Leute, ein Berufsleben sowieso, vierzig Jahre sind Peanuts, bei mir waren es kaum dreißig, ein zwergenhaftes Arbeitsleben. Als ich vor ein paar Monaten die letzten zusammengeschrumpften und wurmstichigen Äpfel am Fuß des Baumes dort sammelte, wusste ich: Ich scharre hier mein Leben und dessen faule Früchte in einem Korb zusammen.
Die Gäste schauten sich verdutzt an, jüngere Leute grinsten ironisch, Ältere bissen sich betroffen auf die Lippen, als hätte Gerlach seine Rede auch in ihrem Namen gehalten. Und ohne echten Zusammenhang hatte er auf einmal alle Regeln der Rhetorik über Bord geworfen und den zu solchen Anlässen erwarteten Ton als langweilig und überflüssig deklariert, denn er schrie ohne Überleitung und mit Fistelstimme:
Ach Kinder, was soll’s? Ich bin so oft durchs Vorexamen gefallen, dass ich ohne Hilfe meiner damaligen Geliebten, Carolin Leitner … Gott sei ihr gnädig, Carolin, deren Witwer heute Abend unter uns verweilt, half mir, die Dokumente zu fälschen, klasse Fälschung, ohne sie wäre ich nie Arzt geworden, und das wäre doch jammerschade gewesen, denn ich war ein verdammt guter Arzt!
Henrietta versteinerte. Die Augen geschlossen, die Hände zusammengepresst, schmiegte sie sich an Viktors Rücken, als könnte der vor den Bomben schützen, die jetzt vor den Augen der ganzen Welt und ihrer Tochter explodieren würden. Diese allerdings wusste nicht mehr, ob sie das Verhalten ihrer an Viktor gekuschelten Mutter oder die Rede des Vaters empörender fand. Ein gewaltiges Lachen schwoll im Raum an, ein Prusten, Donnern, Krachen, Husten, Verschlucken und Klatschen begleitete Gerlachs Stimme und Gestik in die Speicherkarten der Videokameras und in das Sechzehn-Millimeter-Band von Moiras Film, eine Explosion, die langsam abebbte, eine Brandung, die sich an den weißen Tischtüchern des Büffets glättete, und schließlich zu Fischers Mokassins hinblubberte, eine kleine Pfütze hinterließ, wo nur noch einige Fragezeichen und Ausrufezeichen sich wie Strandgut in einem Wirbelchen drehten. Die Gäste scharrten mit den Füßen, ließen Finger knacken, ein junger Mann
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