Der Gesang des Blutes
Haus auch über die Terrasse hätte verlassen können, kam ihr nicht in den Sinn.
Sie trat in dem Moment aus dem Wohnzimmer, als oben ein Dachbalken auseinanderbrach und dessen Ende durch die Decke schlug. Er traf Kristin nicht, blieb mit seinem spitzen, gezackten Ende in der Treppe hängen, doch der Funken- und Feuerregen erreichte sie. Geistesgegenwärtig riss sie die Arme hoch. Hätte sie es nicht getan, wäre anstatt ihrer Jacke ihr Haar in Brand geraten. Blitzschnell drang das Feuer durch den Kunststoff und verschmolz ihn an ihren Unterarmen mit ihrer Haut. Kristin schrie, versuchte die Jacke loszuwerden, doch in ihrer Panik gelang es ihr nicht. Schreiend und um sich schlagend stolperte sie aus dem Haus.
Dort fing Robert sie auf, riss sie zu Boden und wälzte sich mit ihr im Schnee, bis die Flammen erstickt waren. Er riss den Reißverschluss ihrer Jacke auf und zerrte sie ihr vom Körper. Mit ihr zog er ein großes Stück Haut von Kristins Unterarm ab. Sie schrie, und nur die Kälte des Schnees verhinderte eine Ohnmacht. Robert hob sie auf und stützte sie bis zum Cherokee.
«Kristin, bleib wach … du musst wach bleiben.»
«Was … was ist mit … Johann?» Kristin konnte kaum sprechen. Ihr Hals war ebenso wund wie ihr Arm.
Robert schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht», log er. Johann lag im Heck des Cherokee, und soweit er es feststellen konnte, war er tot. Weil die Beifahrertür sich nicht öffnen ließ – das Heck des Daimlers hatte sich in sie gebohrt –, bugsierte Robert Kristin über den Fahrersitz. Sie half ihm dabei so gut sie konnte, doch jede Bewegung ließ eine neue Schmerzwelle durch ihren Körper schießen. Als sie es geschafft hatte, sah sie Flammen aus dem Dach des Hauses geifern. Dicker, schwarzer Rauch quoll in den Himmel.
Das Haus brannte.
Ihr Haus.
Robert ließ sich stöhnend auf den Fahrersitz fallen. Er startete den Motor, legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Mit heftigem Rucken und einem ohrenbetäubenden Knirschen und Quietschen schrammte der Cherokee am Heck des Daimlers entlang. Dann war er frei, und Robert setzte rückwärts die Einfahrt hinauf.
Kristin starrte durch die Windschutzscheibe. Die Flammen spiegelten sich in ihren feuchten Augen. Tränen rannen ihre Wangen hinab.
Dort verbrannten Traum und Albtraum zugleich.
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Epilog
Der Duft und die Ahnung des Frühlings lagen seit ein paar Tagen in der Luft. Zwar war es noch kühl, besonders in den Nächten, und morgens lag Tau wie eine Imitation von Frost auf Feldern und Wiesen, doch ließ sich nicht leugnen, dass sich etwas änderte. Ob es eine Änderung zum Besseren sein würde? … Nun, was das Wetter betraf, konnte Kristin dies aus Erfahrung mit Ja beantworten. Alles andere stand in den Sternen.
Sie hockte auf Knien im feuchten Gras vor dem Grab ihres Mannes. Sie spürte die Nässe an ihren Beinen, doch es störte sie nicht. Nicht im Geringsten. Etwas zu spüren bedeutete, dass man lebte. Sie trug den zweiten Ehering wieder am Mittelfinger der linken Hand und drehte ihn, während sie die eingebrannten Buchstaben in dem schlichten Holzkreuz betrachtete.
Tom Merbold.
Fünf Monate waren seit seinem Tod vergangen, und heute hatte sie es geschafft, sich zu verabschieden. Sich wirklich zu verabschieden. Was sie damals im Aufbahrungsraum der Kapelle nicht gekonnt hatte, war ihr an diesem dunstig-sonnigen Vormittag erstaunlich leichtgefallen.
Kristin warf einen Blick über ihre Schulter. Auf dem Parkplatz hinter der niedrigen Mauer des Waldfriedhofes konnte sie Jeepis Lack in der Sonne funkeln sehen. Lisa und Robert warteten darin. Die Kleine wäre gern zum Grab ihres Vaters mitgegangen, doch diesmal wollte Kristin allein sein. Allein mit Tom. Es war kein Abschied für immer, aber für eine sehr lange Zeit würde sie nicht mehr herkommen. Wie lange, konnte sie nicht sagen. Eine Veränderung stand ins Haus; sie war tiefgreifend, auch ein wenig beängstigend, aber vor allem war sie erwünscht.
Kristin wandte sich dem Holzkreuz zu und drehte an dem Ring.
«Ich weiß, dass du es verstehst», flüsterte sie und strich mit den Fingern über den kühlen Marmor der Grabumrandung. «Du hast mich immer verstanden.»
Schließlich stand sie auf, schüttelte den feuchten Stoff der Hose von ihren Beinen und warf einen langen Blick über die weite Fläche des Friedhofes. Sie würde zurückkehren, wenn auch in langen Abständen. Nicht nur Tom, auch Johann und Hanna lagen hier begraben. Mochte die
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