Der Gesang des Blutes
Veränderung auch noch so viel Neues bringen, so kappte sie doch nicht sämtliche Fäden ihres bisherigen Lebens. Mit langen Schritten ging sie zum Ausgang. Eine Verabschiedung hatten sie noch vor sich.
Maria öffnete ihnen die Tür. Ihr Lächeln war ermutigend und kraftvoll. Eine Zeitlang hatte sie kein Lächeln mehr gehabt.
«Wie geht es deiner Mutter?», fragte sie, als sie in der Küche saßen, Tee tranken und Lisa ein letztes Mal mit Toni spielte.
«Gut, sie fühlt sich wohl dort. Der Arm wird für immer steif bleiben, deshalb ist es wirklich die beste Lösung. Sie hat dort alles, was sie braucht, auch ihren Freiraum.»
«Sie bereut ihre Entscheidung nicht?»
Kristin schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht. Mir gegenüber hat sie jedenfalls nichts gesagt, und sie macht einen zufriedenen Eindruck. Sie hat sich seit damals sehr verändert.»
Maria nickte. «Ja, wir alle haben uns verändert. Nichts ist mehr wie vorher.» Mit einem sichtbaren Ruck schüttelte sie ihre Erinnerung ab und sah Kristin und Robert an. «Ich wünschte, ich könnte noch mal von vorn anfangen, so wie ihr beiden. Fahrt ihr noch heute los?»
«Am Nachmittag», antwortete Robert. «Die Fahrt dauert zehn Stunden, dann kann Lisa die meiste Zeit schlafen. So gegen Mitternacht wollen wir dort sein.»
«Freust du dich?», fragte Maria und legte eine Hand auf Kristins Unterarm.
«Ja, sehr. Ich habe ein bisschen Angst und bin aufgeregt, aber die Freude überwiegt.»
Kristin zögerte einen Moment, bevor sie ihre Frage stellte. Sie und Robert hatten lange nachgedacht, ob sie es überhaupt wissen wollten. Schließlich hatten sie eingesehen, dass die Ungewissheit sie ewig quälen würde.
«Kann ich dich was fragen, Maria?»
Maria lächelte, als wüsste sie schon, was sie erwartete. «Nur zu.»
«Macht es dir etwas aus, uns zu erzählen, was mit den Nussmanns geschehen ist?»
Maria zog die Augenbrauen zusammen. «Und ihr wollt das wirklich wissen? Jetzt noch?»
Kristin und Robert nickten gleichzeitig. «Wir liegen oft bis spät in die Nacht wach, denken darüber nach, fragen uns, was wir gesehen haben. Es ist quälend, keine Antwort auf seine Fragen zu kennen.»
«Ich weiß, mein Kind, ich weiß …» Maria seufzte. «Also gut, ich werde euch erzählen, was Johann mir damals erzählt hat. Ich selbst bin ja nicht dabei gewesen … und dafür danke ich Gott heute noch.»
Maria verfiel einen Moment in Schweigen, bevor sie tief einatmete und dort weitermachte, wo ihr Mann vor seinem Tod aufgehört hatte.
«Die Sache mit dem Scherenschleifer geschah 1911 . Drei Jahre später brach der Krieg aus, und die Geschichte geriet in Vergessenheit. Natürlich gab es noch das Gerücht. Das war wohl auch der Grund, warum niemand aus dem Dorf Hand an die Ruine legte. Es hieß, dort würde es spuken. Aber die Kastanie, die bei dem Brand zerstört worden war, wuchs wieder.
1935 wurde auf den Grundmauern des Kellers ein neues Haus errichtet. Von einer jüdischen Familie. Johanns Vater gründete damals die Gärtnerei. Vier Jahre später wurde Johann geboren, und der Zweite Weltkrieg brach aus. Niemand weiß, was aus der jüdischen Familie geworden ist, aber zum Ende des Krieges stand das Haus leer. Na ja, fast, die Möbel waren noch da. Wahrscheinlich sind sie vor den Nazis geflüchtet, vielleicht aber auch nicht.
Die Alliierten benutzten es einige Zeitlang als Unterkunft, und nachdem sie abgezogen waren, diente es als Gemeindehaus. 1978 wurde Althausen eingemeindet und brauchte keine eigene Verwaltung mehr. Das Haus wurde zum Verkauf angeboten, doch niemand wollte es haben. Niemand aus dem Dorf. Und von außerhalb verirrte sich niemand hierher. Alle wollten in die Stadt. Erst als die Stadt zu teuer, zu laut, zu schmutzig und zu gefährlich wurde, kam es in Mode, aufs Land zu ziehen. Fünfzehn Jahre stand das Haus derweil leer und verfiel.
1983 kauften es Otto und Helga Nussmann. Sie hatten in Hamburg ein Geschäft für Haushaltsartikel und offenbar genug Geld, um das verfallene Sasslingerhaus zu renovieren. Die Renovierung dauerte ein Jahr. Sie wohnten noch keine drei Monate dort, als es … passierte.
Es war, glaube ich, an einem Montag im Spätherbst 1984 , als gegen Mittag das Telefon klingelte. Johann war allein zu Haus. Ich war mit den Jungs nach Hamburg zum Großmarkt gefahren. Helga Nussmann rief an, völlig aufgelöst. Otto Nussmann spielte verrückt und bedrohte sie. Johann konnte es nicht glauben, hörte aber an ihrer Stimme, dass ihre Panik
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