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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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löste die Worte auf, zerfloss mit ihnen, trennte sich wieder, wurde leiser, lauter, klang bald wie aus einer tiefen Höhle kommend, bald so, als hocke der Sänger auf dem Beifahrersitz. Kristin hörte beides zur gleichen Zeit, nebeneinander, und doch zusammen.
    «Nur mein Blut an der Klinge … nur mein Blut.»
    Dann kamen die Bilder. Eins nach dem anderen.
    Der Scherenschleifer zieht seinen Handwagen die Hofeinfahrt zum Sasslingerhaus hinunter. Verschlagen wirkt er, dunkel und bedrohlich. Er singt sein Lied, und das Glöckchen an seinem Wagen bimmelt eifrig. Die Frau erscheint auf dem Hof. Sie ist jung und wunderschön, ihr langes Haar fällt ihr auf die Schultern, die obersten Knöpfe ihres Kleides sind geöffnet. Der Brustansatz schaut weiß schimmernd hervor. An der Stirn und der Brust glitzert es feucht, ihre Wangen sind gerötet. In der rechten Hand hält sie ein langes Messer, welches sie dem Scherenschleifer überreicht.
    Sich im Takte seiner Arbeit wiegend, hockt der Scherenschleifer auf einem Schemel, den Filzhut tief ins Gesicht gezogen. Die Frau steht hinter ihm, dicht, viel zu dicht. Sie öffnet einen weiteren Knopf, streicht sich über Busen und Haar. Im Hintergrund wiegen sich die Äste der Kastanie im leichten Sommerwind.
    Scherenschleifer und Frau sind auf der Diele. Sie hält den Lohn für seine Arbeit in der Hand, geht auf ihn zu, bewegt sich langsam dabei, streckt ihre Hand aus und gibt es ihm. Er ergreift sie beim Handgelenk und zieht sie zu sich heran. Die Frau wehrt sich nicht.
    Ihr Mann kommt von der Arbeit auf dem Felde nach Haus. Er trägt einen Rechen auf der Schulter. Als er sich seiner Hofeinfahrt nähert, sieht er, wie der Scherenschleifer mit seinem Handwagen in einiger Entfernung in einem Waldweg verschwindet. Die Spuren des Wagens führen bis auf den Hof. Am Brunnen stellt der Mann seinen Rechen ab und schleicht auf die Tür zu. Er ruft nicht, denn er will seine Frau überraschen, will dort weitermachen, wo er in der Frühe aufgehört hat. Er steht auf der Türschwelle und sieht seine Frau. Sie liegt auf dem Rücken in der Diele, ihre Brüste sind entblößt, der Rock bis weit über die Knie hochgeschoben, sie trägt nichts darunter. Heftig geht ihr Atem, sie bemerkt ihren Mann erst, als sie sich aufrichtet. Sie erstarrt. In ihren Augen sieht ihr Mann alles. Der Geruch in der Diele spricht von der Wahrheit. Er nimmt jenes Messer, das der Scherenschleifer so vortrefflich geschärft hat, tritt hinter seine Frau, reißt an ihrem langen Haar ihren Kopf zurück und schneidet ihr den Hals auf. Dann steht er einfach da und sieht zu, wie sie röchelnd und zuckend verblutet.

    Kristin umklammerte Jeepis Lenkrad so fest, dass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortreten. Es schien ihr, als sei es die einzige Verbindung zur Realität, und wenn sie es losließ, würde sie fortgerissen werden in andere Sphären. Sie war wie versteinert, spürte ihren Nacken schmerzhafte Stiche in ihren Kopf senden. Heftig ging ihr Atem, ihr Herz raste, drohte zu zerspringen.
    Noch Minuten nachdem die Bilder längst verschwunden waren, saß sie da, stierte durch die Windschutzscheibe, ohne etwas zu sehen, dachte nicht einmal daran, dass sie mitten auf einer Landstraße parkte. Der Radiosong klang gerade aus, umspielte ihre Gedanken und zog sie sanft wieder zurück in diese Welt.
    Tatsächlich kam es Kristin so vor, als sei sie weit weg gewesen. Ihr Körper war im Wagen, die ganze Zeit, doch alles andere, der unsichtbare Teil von ihr, hatte sich getrennt und eine Reise durch die Zeit angetreten. Als er sich wieder mit ihrem Körper vereinigte, verstand Kristin es nicht wirklich, doch später wurde ihr bewusst, dass sie die Rückkehr nur mit Hilfe des Liedes aus dem Radio geschafft hatte. Wäre es schon zu Ende gewesen, als die Bilder aufhörten … nun, vielleicht wäre sie dann eine Gefangene geblieben. Lebenslang. Man hätte sie irgendwann gefunden, in ihrem Wagen mitten auf der Landstraße, nicht ansprechbar, apathisch, abwesend. Nur noch der Körper, die Hülle, alles andere verschwunden.
    Aber sie schaffte es. Und endlich kannte sie die Wahrheit, kannte den Sinn der Worte, die sie in den letzten Wochen verfolgt hatten.
    «Nur mein Blut an der Klinge.»

    Robert wollte aufstehen, wollte nach seiner Waffe suchen, doch als er sich auf die Knie setzte, wurde ihm schwindelig, und er sackte zurück gegen die Treppe. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen. Er sah nur noch das helle Viereck der geöffneten Tür

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