Der Gesang von Liebe und Hass
direkt über ihnen hinweg. Der Colonel schloß die Augen. Er sah im Geiste die Granaten ihren feurigen Flug durch die blaue Luft ziehen, sah den stählernen Griff aus den Rohren der Geschütze nach dem Kloster Santa Maria de la Sierra.
Er hoffte nur, daß die vorgeschobenen Artillerie-Beobachter ihre Ziele gut ausgewählt hatten, damit man nicht einen Haufen Schutt und Asche vorfand, wenn man die Stellung stürmte. Denn das Kloster wurde gebraucht. So gebraucht wie eine neue, frische Armee.
Aber die würde es wohl nie mehr geben.
Der Colonel trank seinen Becher leer, zog sich die braune Lederjacke mit den breiten Epauletten und den roten Sternen über und ging nach draußen. Die Erde schien sich unter seinen Füßen zu bewegen. Aber das war nur Einbildung.
4.
Die Oberin trat Maria Christina in den Weg, als sie in das Gewölbe zurückkehren wollte, das zum Lazarett im Kloster bestimmt worden war.
Die Madre Superior war eine hochgewachsene Frau mit breiten Schultern und einem hochmütigen Gesicht, das alle Schwestern fürchteten, obwohl es in einem Kloster weder Hochmut noch Furcht geben dürfte.
»Wo warst du, Schwester Teresa?«
»Ich habe auf das Land hinausgeschaut.«
»Und was hast du gesehen?«
»Nichts.« Sie senkte die Lider. Die Füße der Oberin in den Sandalen waren breit und groß wie die eines Mannes.
»Warum schaust du nach draußen?«
»Weil es nicht verboten ist.«
»Aber es ist eine Sünde, wenn du dich immer noch nach draußen sehnst.«
»Ich sehne mich nicht mehr.« Maria Christina spürte, daß ihre Lippen trocken waren, ihre Zunge kaum die Lügen hervorbringen wollte, und sie betete: Vergib mir, Herr, meine Schwäche.
»Denke immer an das, was unsere heilige Mutter von Avila sagte, deren Namen du gewählt hast und auf ewig tragen sollst, wenn du die letzten Gelübde ablegst und endgültig in unsere Gemeinschaft aufgenommen wirst: ›Lasset uns auf dem Berge leben und unsere Augen und Herzen dem Himmel und unserem Gott in Ewigkeit zugekehrt sein, nicht dem, was in der Ebene geschieht.‹«
»Ja, Madre Superior, ich werde immer daran denken.«
»Nun bereite alles vor«, sagte die Oberin. »Erhitze das Wasser zum Sterilisieren der Instrumente, schneide das Verbandszeug zurecht, halte Tupfer bereit.«
»Wird es einen Kampf um das Kloster geben?«
Die Oberin antwortete nicht. Sie zündete die drei Karbidlampen an, die am Kopfende des langen Tisches aufgestellt worden waren, der mit einem weißen Laken bedeckt war.
»Du wirst dem Señor Doctor zur Hand gehen und keine dummen Fragen stellen.«
»Ja, Madre Superior.«
»Und du wirst nicht mit den Verwundeten sprechen.«
»Nein, Madre Superior.«
»Dann warte hier und halte dich bereit.« Die Oberin wies auf einen dreibeinigen Schemel, der an einer der weißgekalkten Wände stand.
»Du darfst dich setzen.«
»Gracias, Madre Superior.«
Und obwohl sie so groß und stark war und ihre Füße breit und flach erschienen wie die eines Mannes, verließ die Oberin lautlos den Raum.
Maria Christina setzte sich auf den Schemel und kreuzte die Hände übereinander, nachdem sie die Bandagen und Tupfer bereitgelegt hatte und das silbrige Becken zum Sterilisieren der Instrumente über der Spiritusflamme summte.
Sie schaute in das weiße Licht der Karbidlampen – solche und einen Spirituskocher hatten sie immer mit in die Berge genommen, im Herbst, wenn ihr Vater und ihre Brüder jagten, oder in den Sommernächten, die kühl sein konnten, mit an den Fluß, wenn sie dort picknickten.
Sie sah ihre Brüder und ihren Vater in den pelzgefütterten Jacken und den vom Sattler Manolo auf der Finca handgearbeiteten Stiefeln aus weichem Leder bis zu den Knien. Sie sah die Strecke des erlegten Wildes, wie sie da abends mit den Männern um das Lagerfeuer saß, wenn die Hasenkeulen darüber geröstet wurden und in der heißen Asche die Kartoffeln garten, bis sie mehlig und beinahe süß schmeckten, besonders, wenn man sie aufbrach und ein Stückchen Butter hineinpreßte.
Das weiße Licht der Karbidlampen bei den Picknicks unten am Fluß verwandelte die Lichtung in eine Bühne mit smaragdgrünem Boden, glitzernde Perlen aus Tau hingen an den Grashalmen, und die Korkeichen standen um sie herum, stumme Wächter, damit niemand ihre Fröhlichkeit störe. Sie hatten die alten Lieder gesungen und Fandango getanzt, der in Córdoba ›Granadina‹ genannt wurde, immer unter den wachsamen Augen ihrer drei Tanten, in ihren schwarzen Kleidern mit den breiten,
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