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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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steckte ihn ins Schloss.
     Als das schmatzende Klingeln der Messingglocke am oberen Türscharnierertönte, hatten alle drei Schwestern dasselbe Halblächeln im
     Gesicht.
    - Wir können ins Arbeitszimmer, sagte Tante Inga und ging
     voraus.

    Der Geruch des Eingangsflurs betäubte mich, es duftete
     noch immer nach Äpfeln und alten Steinen, die geschnitzte Aussteuertruhe meiner
     Urgroßmutter Käthe stand an der Wand. Links und rechts daneben die Eichenstühle mit
     dem Familienwappen: ein Herz, von einer Säge zerteilt. Die Absätze meiner Mutter und
     meiner Tante Inga klapperten, Sand knirschte unter Ledersohlen, nur Tante Harriet
     folgte langsam und lautlos auf ihren Reeboks.
    Großvaters Arbeitszimmer war aufgeräumt. Meine Eltern und
     einer der Anwälte, der junge mit der Zigarette, schoben vier Stühle zusammen, drei
     auf der einen Seite und einen gegenüber. Hinnerks Schreibtisch stand schwer und von
     dem ganzen Auftrieb unberührt an der Wand zwischen den beiden Fenstern, die auf die
     Einfahrt mit den Linden schauten. Licht brach sich in den Lindenblättern und
     sprenkelte den Raum. Staub tanzte. Kühl war es hier, meine Tanten und meine Mutter
     setzten sich auf die drei dunklen Stühle, einer der Anwälte nahm sich Hinnerks
     Schreibtischstuhl. Mein Vater und ich standen hinter den drei Schwestern, die beiden
     anderen Anwälte standen rechts an der Wand. Beine und Lehnen der Stühle waren so
     hoch und gerade, dass sich der sitzende Körper sofort in rechte Winkel faltete: Füße
     und Schienbeine, Schenkel und Rücken, Unter- und Oberarme, Hals und Schulter, Kinn
     und Hals. Die Schwestern sahen aus wie ägyptische Statuen in einer Grabkammer. Und
     obgleich uns das unruhige Licht blendete, so erwärmte es doch nicht das Zimmer.
    Der Mann auf Hinnerks Bürostuhl, es war nicht der mit der
     Zigarette, schnalzte mit den Schlössern seiner Aktentasche, das schien den anderen
     beiden ein Zeichen zu sein, sie räusperten sich und schauten den ersten Mann,
     offenbar ihr Anführer, ernst an. Dieser stellte sich vor als Partner des früheren
     Partners von Heinrich Lünschen, meinem Großvater.
    Berthas Testament wurde verlesen und erklärt, mein Vater
     als Vollstrecker eingesetzt. Es ging eine einzige fließende Bewegung durch die
     Körper der Schwestern, als sie hörten, dass das Haus an mich gehen würde. Ich ließ
     mich auf einen Hocker fallen und sah den Partner des Partners an. Der mit der
     Zigarette schaute zurück, ich senkte den Blick und starrte auf den Zettel mit den
     Liedern von der Trauerfeier, den meine Hand noch immer umschlossen hielt. Auf dem
     Daumenballen hatten sich die Noten von »O Haupt voll Blut und Wunden« abgedrückt.
     Tintenstrahldrucker. Häupter voll Blut und Wunden, Haare wie rote Tintenstrahlen sah
     ich vor mir, Löcher in Köpfen, Berthas Gedächtnislücken, Eieruhrsand. Aus Sand, wenn
     er nur heiß genug war, machte man Glas. Ich berührte mit den Fingern meine Narbe,
     nein, es rieselte noch kein Sand heraus, nur Staub sprang aus meinem Samtrock, als
     ich die Hand wieder schloss und die Knie übereinanderschlug. Ich beobachtete eine
     zarte Laufmasche, die sich von meinem Knie aus im schwarzen Samt des Kleides verlor.
     Ich spürte Harriets Blick und schaute auf. Ihre Augen waren voller Mitleid, sie
     hasste das Haus. Rosmarin zum Gedenken. Wer hatte das noch gesagt? Vergessen. Je
     weiter die Maschen in Berthas Gedächtnis wurden, desto größer die
     Erinnerungsbrocken, die hindurchfielen. Je verwirrter sie wurde, destowahnwitziger die Wollstücke, die sie strickte und die durch
     ständiges Fallenlassen von Maschen, durch Zusammenstricken oder durch das
     Wiederaufnehmen neuer Maschen am Rand in alle Richtungen wuchsen und schrumpften,
     klafften und verfilzten und sich von überall her aufribbeln ließen. Meine Mutter
     hatte die Strickstücke in Bootshaven zusammengesammelt und mit nach Hause genommen.
     In einem Karton im Kleiderschrank ihres Schlafzimmers bewahrte sie sie auf. Durch
     Zufall war ich einmal auf ihn gestoßen und hatte mit einer Mischung aus Entsetzen
     und Belustigung eine Strick-skulptur nach der anderen auf dem Bett meiner Eltern
     ausgebreitet. Meine Mutter kam dazu, ich wohnte nicht mehr zu Hause, und Bertha war
     schon im Heim. Eine Weile betrachteten wir die wollenen Ungeheuer.
    - Irgendwo muss schließlich jeder seine Tränen
     konservieren, sagte meine Mutter wie zur Verteidigung, dann packte sie alles wieder
     zurück in den

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