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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Schrank. Wir sprachen nie mehr über Berthas Gestricktes.

    Im Gänsemarsch schritten alle wieder aus dem Arbeitszimmer
     hinaus, den Flur entlang zurück zur Haustür, die Glocke schepperte blechern. Die
     Männer gaben uns die Hand, gingen fort, und wir setzten uns draußen auf die Treppe.
     Fast jede der glatten gelbweißen Steinplatten hatte einen Riss, aber nicht quer
     durch, sondern längs: Flache Stücke waren herausgesprungen, die nun lose auflagen
     und wie Deckel abgenommen werden konnten. Früher waren es nicht so viele gewesen,
     nur sechs oder sieben, wir hatten sie als Geheimfächer benutzt und Federn, Blüten
     und Briefe darin versteckt.
    Damals schrieb ich noch Briefe, glaubte noch anGeschriebenes, Gedrucktes, Gelesenes. Das tat ich inzwischen nicht
     mehr. Ich war Bibliothekarin an der Freiburger Universitätsbibliothek, ich arbeitete
     mit Büchern, ich kaufte mir Bücher, ja, gelegentlich lieh ich mir auch welche aus.
     Aber lesen? Nein. Früher ja, da schon, da las ich ununterbrochen, im Bett, beim
     Essen, auf dem Fahrrad. Doch damit war Schluss. Lesen, das war das Gleiche wie
     sammeln, und sammeln war das Gleiche wie aufbewahren, und aufbewahren war das
     Gleiche wie erinnern, und erinnern war das Gleiche wie nicht genau zu wissen, und
     nicht genau zu wissen war das Gleiche wie vergessen zu haben, und vergessen war das
     Gleiche wie fallen, und das Fallen musste ein Ende haben.
    Das war eine Erklärung.
    Ich war aber gern Bibliothekarin. Aus denselben Gründen,
     aus denen ich nicht mehr las.
    Erst hatte ich Germanistik studiert, aber bei den
     Seminararbeiten merkte ich, dass mir alles, was nach dem Bibliographieren kam,
     belanglos erschien. Kataloge, Schlagwortregister, Handbücher, Indizes hatten ihre
     eigene feine Schönheit, die sich beim flüchtigen Lesen ebenso wenig erschloss wie
     ein hermetisches Gedicht. Wenn ich mich von einem allgemeinen Nachschlagewerk mit
     seinen vom vielen Benutzen schmiegsamen Seiten langsam über mehrere andere Bücher an
     eine hochspezialisierte Monographie, deren Umschlagdeckel vor mir noch niemals von
     irgendjemandem außer einem Bibliothekar in die Hand genommen worden waren,
     herangetastet hatte, so löste dies in mir ein Gefühl der Genugtuung aus, mit welchem
     sich das, was ich für meinen eigenen Text empfand, nie messen konnte. Zudem war das,
     was man aufschrieb, auch das, was man sich nicht merken musste, also das, was man
     getrost vergessen konnte, weil man ja nunwusste, wo es stand, und
     damit trat wieder in Kraft, was für das Lesen galt.

    Besonders liebte ich an meinem Beruf das Aufstöbern
     vergessener Bücher, Bücher, die schon seit Hunderten von Jahren an ihrem Platz
     standen, wahrscheinlich noch nie gelesen worden waren, eine dicke Staubkruste im
     Schnitt, und die doch Millionen von ihren Nichtlesern überlebt hatten. Ich hatte
     mittlerweile sieben oder acht dieser Bücher ausfindig gemacht und besuchte sie in
     unregelmäßigen Abständen, berührte sie aber nie. Gelegentlich schnupperte ich ein
     bisschen an ihnen. Wie die meisten Bibliotheksbücher rochen sie schlecht, das
     Gegenteil von frisch. Am schlimmsten roch das Buch über altägyptische Mauerfriese,
     es war schon ganz schwarz und wüst. Meine Großmutter hatte ich nur ein einziges Mal
     im Heim besucht. Sie saß in ihrem Zimmer, hatte Angst vor mir und machte sich in die
     Hose. Eine Pflegerin kam und wechselte ihre Windeln. Ich küsste Bertha zum Abschied
     auf die Wange, sie war kühl, und an meinen Lippen konnte ich das Netz von Runzeln
     fühlen, das weich über ihrer Haut lag.

    Während ich auf der Treppe wartete und die Risse in den
     Steinen mit dem Finger nachzeichnete, saß meine Mutter zwei Stufen über mir und
     redete auf mich ein. Sie sprach leise und führte ihre Sätze nicht zu Ende, sodass
     der Klang ihrer Stimme noch eine Zeit lang in der Luft zu schweben schien. Gereizt
     fragte ich mich, warum sie das seit neuestem immer tat. Erst als sie mir einen
     großen messingfarbenen Schlüssel in den Schoß legte, der mit seinem einfach
     geschwungenen Bart aussah wie das Bühnenrequisit zu einem Weihnachtsmärchen, merkteich schließlich, was hier geschah. Es ging um das Haus, es ging
     um Berthas Töchter hier auf der verfallenen Treppe, um ihre tote Schwester, die im
     Haus geboren wurde, um mich und um Rosmarie, die im Haus gestorben war. Und es ging
     um den jungen Rechtsanwalt mit der Zigarette. Fast hätte ich ihn nicht erkannt, aber
     kein

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