Der Gesellschaftsvertrag
Richtigkeit verliert, sobald er es nur mit einem einzelnen bestimmten Gegenstande zu tun hat, weil wir bei der Beurteilung einer uns fremden Angelegenheit uns von keinem wahren Grundsatze der Billigkeit leiten lassen.
Sobald es sich bei einem durch eine frühere allgemeine Übereinkunft noch nicht geregelten Punkte um ein besonderes Ereignis oder ein besonderes Recht handelt, wird die Sache in der Tat strittig. Es liegt dann ein Rechtshandel vor, in dem die dabei beteiligten einzelnen die eine Partei und das Gemeinwesen die andere bilden, für den ich jedoch weder das Gesetz, das zu befolgen, noch den Richter, der zur Fällung des Urteils berechtigt wäre, aufzufinden vermag. Es würde lächerlich sein, sich dann in einem derartigen Falle auf eine ausdrückliche Entscheidung des allgemeinen Willens verlassen zu wollen, die ja doch nur der Beschluß der einen Partei sein kann und folglich für die andere nur eine fremde, einzelne, bei dieser Gelegenheit zur Ungerechtigkeit geneigte und dem Irrtum unterworfene Willensmeinung ist. Ebenso wie der Wille des einzelnen nicht imstande ist, für den allgemeinen Willen einzutreten, verändert seinerseits auch der allgemeine Wille seine Natur, sobald es sich um einen einzelnen Gegenstand handelt, und kann nicht als allgemeiner Wille über einen Menschen oder ein Ereignis ein Urteil fällen. Wenn beispielsweise die Athener ihre Feldherren ernannten oder absetzten, dem einen Ehrenbezeigungen zuerkannten, den anderen Strafen auferlegten und durch eine Menge besonderer Beschlüsse ohne Unterschied alle Regierungsgeschäfte ausübten, so hatten sie im eigentlichen Sinne keinen allgemeinen Willen mehr; sie handelten nicht mehr als Staatsoberhaupt, sondern als Verwaltung. Dies wird freilich scheinbar mit den gewöhnlichen Begriffen in Widerspruch stehen; man möge mir jedoch nur Zeit lassen, die meinigen auseinanderzusetzen.
Man muß verstehen, daß weniger die Anzahl der Stimmen den Willen verallgemeinert als vielmehr das allgemeine Interesse, die sie vereinigt, denn bei dieser Einrichtung unterwirft sich ein jeder den Bedingungen, die er den anderen auferlegt. Es herrscht ein bewundernswerter Einklang des Interesses und der Gerechtigkeit, der den gemeinsamen Beschlüssen einen Charakter der Billigkeit verleiht, die bei der Erörterung jeder Privatangelegenheit sichtlich verlorengeht, weil kein gemeinschaftliches Interesse vorhanden ist, das die Anschauung des Richters mit der der Partei in Einklang und Übereinstimmung bringt.
Von welcher Seite aus man auch auf das Prinzip zurückgehen möge, stets gelangt man zu dem Schlusse, daß der Gesellschaftsvertrag unter den Staatsbürgern eine derartige Gleichheit herstellt, daß sich alle auf dieselben Bedingungen hin verpflichten und alle derselben Rechte genießen müssen. Der Natur des Vertrages gemäß verpflichtet oder begünstigt jede Handlung der Staatshoheit, d. h. jede authentische Handlung des allgemeinen Willens, alle Staatsbürger in gleicher Weise, so daß das Staatsoberhaupt lediglich den Körper der Nation kennt und von allen, die ihn bilden, keinen unterscheidet. Was ist denn nun eigentlich eine Handlung der Staatshoheit? Nicht eine Übereinkunft des Höheren mit dem Niederen, sondern eine Übereinkunft des Körpers mit jedem seiner Glieder; sie ist rechtmäßig, weil sie den Gesellschaftsvertrag zur Grundlage hat; sie ist billig, weil alle gleichen Anteil daran haben; sie ist nützlich, weil sie nur auf das allgemeine Beste ausgehen kann und auch dauerhaft, da die Staatskraft und die oberste Gewalt für sie eintreten. Solange die Untertanen nur den in solcher Übereinkunft angenommenen Gesetzen unterworfen sind, gehorchen sie niemand als ihrem eigenen Willen; und die Frage aufstellen, bis wohin sich die gegenseitigen Rechte des Staatsoberhauptes und der Staatsbürger erstrecken, heißt nichts anderes als fragen, bis wie weit sich letztere gegen sich selbst, jeder gegen alle und alle gegen jeden verpflichten können.
Hieraus ist ersichtlich, daß die oberherrliche Gewalt, so unumschränkt, heilig und unverletzlich sie auch ist, die Grenzen der allgemeinen Übereinkunft weder überschreitet noch überschreiten kann, und daß jeder Mensch über den ihm durch diese Übereinkünfte gebliebenen Teil seiner Güter und seiner Freiheit vollkommen unbehindert verfügen kann, so daß dem Staatsoberhaupte nie das Recht zusteht, einen Untertan stärker als den andern zu belasten, weil dies zu einer Privatangelegenheit wird, deren
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