Der Gesellschaftsvertrag
Staatsoberhaupt keine andere Macht hat als die gesetzgebende Gewalt, so wirkt es nur durch Gesetze, und da die Gesetze nichts anderes als authentische Kundgebungen des allgemeinen Willens sind, so kann das Staatsoberhaupt nur wirken, wenn das Volk versammelt ist. Das Volk versammelt! wird man sagen, welch ein Hirngespinst! Heutzutage ist es allerdings ein Hirngespinst, aber vor zweitausend Jahren war es das nicht. Hat sich die Natur der Menschen denn geändert?
In der moralischen Welt sind die Grenzen des Möglichen weniger eng, als wir glauben; erst unsere Schwächen, unsere Laster und unsere Vorurteile verengern sie. Gemeine Seelen glauben nicht an große Männer; erbärmliche Sklaven lachen spöttisch bei dem Worte Freiheit.
Aus dem Geschehenen wollen wir auf das schließen, was geschehen kann. Ich will nicht von den alten Republiken Griechenlands reden, aber die römische Republik war doch, nach meiner Meinung, ein großer Staat und Rom eine große Stadt. Die letzte Schätzung ergab in Rom vierhunderttausend waffenfähige Bürger und die letzte Volkszählung im ganzen Reiche vier Millionen Bürger, wobei alle, die nicht das Bürgerrecht erhalten hatten, und ferner Ausländer, Frauen, Kinder und Sklaven nicht mitgerechnet waren.
Welche Schwierigkeit würde man sich nicht vorstellen, die ungeheure Volksmasse dieser Hauptstadt und ihrer Umgegend häufig zu versammeln! Gleichwohl verstrichen nur wenige Wochen, daß das römische Volk nicht versammelt worden wäre, ja mitunter sogar mehrmals. Nicht allein übte es die oberherrlichen Rechte aus, sondern zum Teil auch die der Regierung. Es verhandelte gewisse Staatsgeschäfte, fällte das Urteil in gewissen Prozessen, und das ganze Volk befand sich fast ebensooft in obrigkeitlicher wie in staatsbürgerlicher Eigenschaft auf dem öffentlichen Platze.
Wenn man auf die ältesten Zeiten der Völker zurückginge, würde man finden, daß die meisten alten Regierungen, selbst monarchische, wie die der Mazedonier und Franken, ähnliche Volksberatungen abhielten. Wie dem auch sein möge, so widerlegt schon diese einzige unbestreitbare Tatsache alle Schwierigkeiten; der Schluß von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit scheint mir untrüglich zu sein.
13. Kapitel
Fortsetzung
Es genügt nicht, daß das versammelte Volk die Staatsverfassung einmal durch die Bestätigung eines Gesetzbuches festgesetzt, auch nicht, daß es eine bleibende Regierung eingeführt oder ein für allemal für die Wahl der Behörden Vorkehrungen getroffen hat, sondern es muß außer den außerordentlichen Versammlungen, die unvorhergesehene Fälle nötig machen können, regelmäßige und periodische geben, die unter keinen Umständen abgeschafft oder vertagt werden dürfen, so daß das Volk gesetzlich auf einen bestimmten Tag zusammengerufen ist, ohne daß es dazu erst einer anderen ausdrücklichen Einberufung bedarf.
Dagegen außer diesen an bestimmten Tagen durch das Gesetz angeordneten Versammlungen muß jede Volksversammlung, die nicht von den zu diesem Zwecke eingesetzten Obrigkeiten auf vorschriftsmäßigem Wege zusammenberufen ist, für ungesetzmäßig und jeder Beschluß derselben nichtig gehalten werden, weil selbst der Befehl, sich zu versammeln, vom Gesetze ausgehen muß.
Die mehr oder weniger häufige Wiederkehr solcher gesetzmäßigen Versammlungen hängt von so vielen Rücksichten ab, daß man darüber keine bestimmten Regeln zu erteilen vermag. Im allgemeinen läßt sich nur sagen, daß sich das Staatsoberhaupt, also das Volk, desto häufiger zeigen muß, je kräftiger die Regierung ist.
Für eine einzelne Stadt, wird man mir vielleicht einwenden, mag dies ganz gut sein; was aber anfangen, wenn der Staat mehrere umfaßt? Soll man die oberherrliche Gewalt teilen oder sie auf eine einzige Stadt beschränken und alles übrige ihr unterwerfen?
Ich erwidere, daß man weder das eine noch das andere tun darf. Erstens ist die oberherrliche Macht eine Einheit, die man, ohne sie zu zerstören, nicht teilen darf. Sodann kann eine Stadt ebensowenig wie ein Volk gesetzmäßig einer anderen untertänig sein, weil der politische Körper seinem Wesen nach sowohl auf Gehorsam wie auf Freiheit beruht, und die Worte Untertan und Staatsoberhaupt identische Wechselbegriffe bilden, deren Idee sich in dem Worte Staatsbürger vereinigt.
Ferner entgegne ich, daß es stets ein Übel ist, mehrere Städte zu einem einzigen Gemeinwesen zu vereinigen, und daß man sich nicht einbilden soll, man könne mit dieser
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