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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Gast, für den sich niemand besonders interessierte oder zuständig fühlte.
    John Barstow rief mich relativ oft auf, und er stellte mir Fragen, die er Frederic Miller oder Na-Ji, der Koreanerin, sicher nie gestellt hätte. So zum Beispiel am Tag nach meiner ersten Plauderei mit Janine.
    »Ah, Brenda, Sie lesen DeLillo«, rief er ihr zu, als er den Raum betrat.
    Brenda errötete, was sie oft tat, und wollte das Buch schon in ihre Tasche stecken.
    »Nein, nein. Warten Sie. Haben Sie's schon durch?« Und dann zu uns gewandt. »Oder jemand von Ihnen?«
    Wir drehten uns nach Brenda um, die das Buch kurz hochhielt und noch röter geworden war. White Noise, lautete der Titel, Weißes Rauschen. Ich hatte weder vom Autor noch von diesem Roman jemals gehört.
    »Also Brenda, haben Sie's gelesen oder nicht?«
    »Fast«, sagte sie. »Ich bin fast durch.«
    »Und?«
    »Na ja, es ist nur ein Universitätsroman.«
    »Nur. Warum sagen Sie nur. Ist das kein respektables Genre? Oder finden Sie ihn schlecht?«
    »Nein, überhaupt nicht. Er ist komisch. Irgendwie lustig.«
    Barstow verschränkte die Arme und schaute in die Runde. Sein Hemd spannte sich über seinem umfänglichen Bauch.
    »Lesen Sie das Buch nur so zum Spaß oder für einen Kurs?«
    »Nur so. Ich habe es geschenkt bekommen.«
    »Darf ich?«
    Er ging zu ihr hin, nahm den Band in die Hand und blätterte darin.
    »Ist erst vor ein paar Monaten erschienen«, sagte er, »und ein gutes Beispiel dafür, wie bescheuert Literaturkritiker sind. Fast nur Verrisse. Ich kenne keinen einzigen Rezensenten, der die Pointe dieses Romans kapiert hat. Schauen wir mal, aha, hier...«
    Er sah sich im Raum um
    »Frederic. Diesen Absatz, lesen Sie ihn uns doch bitte kurz vor, ja?«
    Frederic atmete tief durch und machte keinen Hehl daraus, was er davon hielt, vorlesen zu müssen.
    »Ein paar Tage später fragte Murray mich nach einer Touristenattraktion, die als meistfotografierte Scheune Amerikas bekannt war. Das ist ja wohl ein Witz.«
    »Sicher. Ein Witz. Lesen Sie weiter.«
    »Wir fuhren zweiundzwanzig Meilen ins Land um Farmington hinein. Dort gab es Wiesen und Apfelplantagen. Weiße Zäune zogen sich durch die wogenden Felder. Bald tauchten die ersten Schilder auf. DIE MEISTFOTOGRAFIERTE SCHEUNE AMERIKAS.«
    Frederic musste kichern. Barstow sagte nur: »Weiter, bitte.«
    »Wir zählten fünf Schilder, bevor wir die Stelle erreichten. Vierzig Autos und ein Bus standen auf dem Behelfsparkplatz.
    Wir gingen einen Trampelpfad entlang bis zu dem leicht erhöhten Punkt, der zum Anschauen und Fotografieren ausersehen war. Alle Leute hatten Fotoapparate dabei; einige sogar Stative, Teleobjektive, verschiedene Filter. Ein Mann in einem Kiosk verkaufte Postkarten und Dias - Bilder der Scheune, die von dem erhöhten Punkt aufgenommen worden waren. Wir standen in der Nähe eines kleinen Baumbestandes und beobachteten die Fotografen. Murray verfiel in anhaltendes Schweigen, wobei er gelegentlich Notizen in sein Büchlein kritzelte.
    »Keiner sieht die Scheune«, sagte er schließlich.
    Langes Schweigen folgte.
    »Sobald man die Hinweisschilder auf die Scheune gesehen hat, wird es unmöglich, die Scheune selbst zu sehen.«
    Wieder verstummte er. Menschen mit Fotoapparaten verließen den höher gelegenen Platz, und sofort traten andere an ihre Stelle.
    »Wir sind nicht hier, um ein Bild einzufangen, wir sind hier, um eines aufrechtzuerhalten. Jedes Foto verstärkt die Aura. Spüren Sie das, Jack? Eine Anhäufung namenloser Energien.«
    Ausgedehntes Schweigen folgte. Der Mann am Kiosk verkaufte Postkarten und Dias.
    »Hier zu sein bedeutet eine Art geistiges Ausgeliefertsein. Wir sehen nur, was die anderen sehen. Die Tausende, die in der Vergangenheit hier gewesen sind, und diejenigen, die in der Zukunft noch kommen werden. Wir haben eingewilligt, Teil einer kollektiven Wahrnehmung zu sein. Das bringt im wahrsten Sinne des Wortes Farbe in unser Vorstellungsvermögen. Eine religiöse Erfahrung sozusagen, wie aller Tourismus.«
    Erneutes Schweigen schloss sich an.
    »Sie fotografieren das Fotografieren«, sagte er.
    Eine Weile sprach er nicht mehr. Wir lauschten dem unaufhörlichen Klicken von Auslösern, dem rasselnden Kurbeln von Hebeln, die den Film transportierten.
    »Wie war die Scheune, bevor sie fotografiert wurde?«, fragte er. »Wie sah sie aus, inwiefern unterschied sie sich von anderen Scheunen, inwiefern glich sie anderen Scheunen? Wir können diese Fragen nicht beantworten, weil wir die

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