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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Fell, dessen Herkunft ich beim besten Willen nicht zuordnen konnte, irgendetwas zwischen Eisbär und Mondkalb. Ein wenig geschminkt war sie auch. Sie trug Lippenstift und Rouge auf den Wangen. Sie nippte an einem blutorangenfarbenen Cocktail. Ihren nackten rechten Arm hatte sie lässig auf der breiten Lehne des Sofas abgelegt. Man hätte meinen können, sie läge jeden Freitagabend auf dem Sofa in einer Millionärsvilla herum. Der Mann neben ihr sprach mit seinem Nachbarn, einem glatzköpfigen, ziemlich blassen Typen. Bisweilen wandte er sich Janine zu und sagte etwas zu ihr. Sie nickte, verzog jedoch keine Miene, sondern stellte ihr Cocktailglas auf ihrem Bauch ab.
    »Komm mit raus zum Pool«, sagte Frederic, der neben mir im Gedränge stand. Ich folgte ihm ein Stück in die Eingangshalle hinein, ließ ihn dann aber alleine weitergehen. Der süßliche Geruch von Marihuana stieg mir in die Nase. Ein Kellner blieb vor mir stehen und hielt mir ein Tablett hin. Ich griff nach einem Glas Wasser und zwängte mich an ein paar herumstehenden Gästen vorbei auf eine Nische zu. Von hier aus hatte ich sie gut im Blick. David war also gar nicht ihr Freund, sondern dieser Typ neben ihr? Ich war erneut überrascht von ihrer Auswahl. Er war sozusagen das andere Extrem, eine Mischung aus Latin Lover und Bankierssohn. Vielleicht war er ja beides, oder nichts davon. Ebenso gut konnte er auch Tennisprofi sein oder einfach nur Student wie ich. Ein Satz von John Barstow kam mir in den Sinn. Wir können gar nicht wissen, was wir lesen, sondern nur, wie wir lesen.
    Der Abendausflug bekam mir nicht. Ohne es zu wollen, beneidete ich all diese Leute ein wenig. Sie waren genau da, wo sie hingehörten, und wussten offenbar auch mehr oder weniger, wo sie hinwollten. Materielle Probleme hatten sie sowieso nicht. Wer dreißigtausend Dollar Studiengebühr im Jahr bezahlen konnte, musste sich über Geld wohl keine Gedanken machen. Manche der Partygäste hier arbeiteten wahrscheinlich schon in einem der Glaskästen, die überall an der Küste herumstanden und Firmen beherbergten, die Software oder komplexe Finanzprodukte entwickelten, in jedem Fall Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Oder sie arbeiteten gar nicht, hatten einfach genügend Geld. Der schräge Vogel auf dieser Party war ich, der mittellose junge Mann, der sich ein paar Jahre lang mit aussichtslosen Studien die Zeit vertrieb, anstatt sich eine Lebensgrundlage aufzubauen.
    Ich musste an eines der letzten Telefongespräche mit meinen Vater vor meiner Abreise denken. Es war um irgendeine Volontariatsstelle beim Rundfunk gegangen, die ich über einen Bekannten von ihm hätte bekommen können. Ich solle mich doch wenigstens bewerben, eine Berufsausbildung machen und nicht meine Zeit mit diesem sinnlosen Literaturstudium verschwenden. Wie es denn nach Amerika weitergehen solle? Ob ich unsere Abmachung noch zu honorieren gedächte. Er werde mir ein Hochschulstudium finanzieren, mehr aber auch nicht. Was ich also tun wolle?
    Ich hatte keine Ahnung.
    Ich hätte doch jetzt dieses Stipendium, hatte ich ihm entgegnet. Ein einziger Quatsch seien diese ganzen Stipendien, hatte er erbost erwidert. Und dann kam das alte Lied. Kein Land der Welt brauche Tausende von Anglisten oder Germanisten. Geisteswissenschaftliche Fakultäten seien keine Orte der Ausbildung, sondern Stätten der Einbildung, realitätsfreie Räume, wo man Arbeiter- und Bürgerkindern ein paar Jahre lang ein Lebensmodell vorgaukle, das früher dem Adel vorbehalten gewesen und zu Recht weitgehend ausgestorben sei: die beneidenswerte Existenz von Privatgelehrten. Ich sei das ahnungslose Opfer eines völlig überholten Bildungsbegriffs, der aus den verqueren und weltfremden Vorstellungen eines Haufens romantischer und lebensuntüchtiger Spinner im späten achtzehnten Jahrhundert hervorgegangen und für die deutsche Geschichte wiederholt fatal gewesen sei. Ich solle doch endlich in der Wirklichkeit ankommen.
    Es war eine Geste Janines, die mich dorthin zurückholte. Die Hand ihres Begleiters hatte bisher auf ihrer Schulter gelegen. Nun begann sein Zeigefinger, sich selbstständig zu machen, und versuchte, unter den Spaghettiträger ihres Kleides zu wandern. Janine stellte ihr Glas ab, schob die Hand zur Seite und erhob sich. Der Zurückgewiesene beugte sich vor, aber Janine schüttelte nur den Kopf und verließ den Raum. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Ihre Schuhe lagen noch da. Durch die großen Fensterscheiben konnte man in

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