Der gestohlene Abend
außer dem Filmkurs?«
»Afrikanische Geschichte«, antwortete sie. »Und ein paar Journalismuskurse. Bei Goldenson sitze ich nur, damit ich für den Rest mehr Zeit habe. Das machen ja eigentlich alle so. Du doch sicher auch, oder?«
»Ich wusste es zwar vorher nicht, aber im Augenblick bin ich froh, dass ich wenigstens einen Kurs habe, den ich in zwei Stunden pro Woche erledigen kann. Dieses Trimestersystem ist ziemlich stressig.«
»Stimmt, aber man wird schneller fertig. Woher kannst du so gut Englisch?«
»Ich bin zwei Jahre in West-Virginia zur Schule gegangen. Mein Vater hat dort gearbeitet. Und du? Kennst du Europa?«
»Nur Frankreich. Meine Mutter hat einen Parisfimmel. Sie fährt laufend hin. Sie hat sogar eine kleine Wohnung dort.«
Ich mochte ihre Stimme.
»David fährt oft nach Europa und will immer, dass ich mitkomme. Aber es hat sich noch nicht ergeben.«
»David?«
»Mein Freund. Er ist auch schon in Berlin gewesen. Stimmt es, dass die U-Bahnen unter dem kommunistischen Teil der Stadt durchfahren?«
»Ja«, sagte ich.
»Ich kann mir das gar nicht vorstellen.«
»Warum war er in Berlin?«
Wir bogen nach rechts ab. Ich konnte schon die Lichter von Faculty Hill sehen.
»Für Recherchen.«
»Ist er Journalist oder so etwas?«
»Nein. Er promoviert am INAT. Sagt dir das etwas?«
»Ja, ich habe davon gehört.«
»Seine Professorin ist sehr bekannt, ein richtiger Star, und daher natürlich völlig überarbeitet. Sie delegiert viel an David, vor allem Archivarbeit für die De-Vander-Sammlung und zeitaufwendige Recherchen für Konferenzen und so.«
Ich riss meinen Blick von ihren feingliedrigen Händen auf dem Lenkrad und sah auf die Fahrbahn. Um nicht mit fünf Fragen auf einmal herauszuplatzen, sagte ich schließlich:
»Warum machst du eigentlich keine Rollwende?«
Sie stutzte. Dann begriff sie, wovon ich sprach und antwortete lachend:
»Kann ich nicht. Geht nicht.«
»Natürlich geht das«, erwiderte ich. »Man muss nur wissen, wie. Spart viel Zeit und Energie.«
»Wir sind da«, antwortete sie. »Wie herum soll ich fahren? Welches Haus war es noch? Willow oder Sycamorel«
»Cedar. Aber lass nur. Ich steige lieber hier aus und gehe den Rest zu Fuß.«
»Sicher?«
»Absolut.«
Sie bog zweimal ab und parkte vor einem Wohnhaus. Pine, stand in geschwungenen Lettern über dem Eingang. Das Gebäude sah nur geringfügig anders aus als das, in dem ich untergekommen war. Die Balkone waren breiter. Wahrscheinlich hatten die Wohnungen mehrere Zimmer. Auf einem der Balkone, direkt über uns im zweiten Stock, stand jemand und rauchte.
»Ah, David ist noch auf«, sagte Janine und schlängelte sich vom Fahrersitz.
Ich stieg aus und schaute zu der stummen, rauchenden Figur auf dem Balkon hinauf. Was für eine Beziehung hatten die beiden wohl miteinander? Die Situation war mir unangenehm. Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, aber gegen das Licht, das im Zimmer hinter ihm brannte, sah ich nur seine Silhouette.
»Hi, David«, rief Janine.
Er winkte matt, was man nur an der langsam hin und her wandernden Glut seiner Zigarette erkennen konnte. Sollte ich auch etwas sagen?
»Hi«, murmelte ich halblaut.
»Das ist Matthew, aus Deutschland«, ergänzte Janine.
Was für eine blöde Situation.
»Hi«, kam es von oben zurück. »War's schön?«
Janine antwortete ihm nicht. Sie wünschte mir eine gute Nacht und ging auf die Haustür zu. Ich spürte, dass David zu mir herunterschaute.
»Danke fürs Mitnehmen«, rief ich ihr noch hinterher, laut genug, dass er es hören würde.
»Kein Problem.«
Dann war sie verschwunden.
Kapitel 13
Gekauft hatte ich die Sonette wegen David. Doch ich las sie zuerst wegen ihr.»
Shall I compare thee to a summer's day?
Thou art more lovely and more temperate...
Ich kam mir selbst ein wenig albern vor. Aber es sah und hörte mich ja niemand. Ich las mir die Zeilen leise vor, voller Bewunderung für die leichtfüßige Schwermut, mit der dieser Dichter vor vierhundert Jahren das Gefühl beschrieben hatte, das mich jetzt nicht einschlafen ließ. So einfach, so wahr, und so unübersetzbar. Von der ersten Zeile hatte ich schnell zwei Versionen.
Soll einem Sommertag ich dich vergleichen
Bist du vergleichbar einem Sommertag
Aber dann? Schon mit den Wörtern wurde es heikel. Lovely und temperate. Lieblich? Sanft? Mild? Und erst der Rhythmus. Weiter unten wurde es noch verzwickter.
Rough winds do shake the darling buds of May
And summer's lease hath all too short a
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