Der gestohlene Abend
date.
Die rauen Winde, welche an Maiknospen zerrten, waren unüberwindlich sperrig. Der nächste Vers verdorrte mir zu
Des Sommers Pachtvertrag ist allzu bald vorbei.
Ich gab auf und buchstabierte meinen Sehnsüchten weiter auf Englisch hinterher, bis der Schlaf mich übermannte.
Es dauerte ziemlich lange, bis ich am Samstag einen klaren Kopf hatte, aber ich riss mich zusammen, blieb den ganzen Tag in der Bibliothek, schaffte Todorov wie geplant, ging früh zu Bett, saß am Sonntag ab acht Uhr wieder in der Bibliothek und schob die Mittagspause hartnäckig so lange vor mir her, bis ich die Literaturliste zu Stephen Crane für Barstows Kurs fertig hatte. Erst dann gönnte ich mir einen Taco Salad und eine Stunde Nichtstun auf dem Rasen.
Beim Hinausgehen sah ich Frederic zwischen den Regalen stehen. Er sah übermüdet aus und schaute schlecht gelaunt die grauen Rücken der MLA-Bibliografie an, offensichtlich total ratlos, mit welchem Band er beginnen sollte. Als er mich sah, winkte er mir resigniert zu, wies auf das Regal und tippte sich dann an den Kopf. Ich signalisierte ihm mein herzliches Beileid, was auch ernst gemeint war. Mir ging es ja nicht anders. Wo sollte man nur immer beginnen?
Ich ließ mich auf der Wiese hinter dem Pool nieder. Dort hielt sich selten jemand auf, und am Sonntag, wenn das Schwimmbad geschlossen war, schon gar nicht. Ich hatte Lust, zu rauchen und wollte heute niemandem Rechenschaft darüber ablegen. Rauchen war hier äußerst lästig. Wildfremde Menschen im Park oder am Strand waren schon neben mir stehen geblieben und hatten mich drauf hinwiesen, was für eine schmutzige Angewohnheit das doch sei. Ich gebe zu, ich bin leicht zu beeinflussen. Aus diesem Grund hatte ich ja vermutlich mit dem Rauchen überhaupt einmal begonnen. Und in einem Land, wo Rauchen den Stellenwert von öffentlichem In-der-Nase-Bohren hatte, würde es mir mit der Zeit auch nicht schwerfallen, wieder davon abzulassen. Aber nicht ausgerechnet heute.
Die Sonne schien. Die Zigarette bescherte mir jenes angenehm prickelnde Gefühl, das sich einstellt, wenn man länger Abstinenz gehalten hat. Ich döste vor mich hin, versuchte an die Novelle von Kleist zu denken, die ich nachher für Ruth Angerstons Seminar vorbereiten musste, kehrte in Gedanken jedoch immer wieder zu der merkwürdigen Kette von Situationen am Freitagabend zurück. Janine auf dem Ledersofa. David auf dem Balkon. Und ab und zu war da auch ihre Stimme: Das war jetzt genau die Frage, die du nicht stellen solltest.
Nach einer Weile holte ich den Band mit den Shakespeare-Sonetten aus meiner Tasche, überblätterte allerdings die Gedichte und schlug gleich den Kommentarteil auf. Der Herausgeber begann sein Nachwort mit der Feststellung, dass es vermutlich keinen zweiten Text in der Literaturgeschichte gab, der so restlos erforscht und ausgedeutet war wie diese ein-hundertvierundfünfzig Sonette. Und ausgerechnet darüber würde Janines Freund seinen großen Vortrag halten? Über einen Text, zu dem alles gesagt war. Oder fast alles. Denn ein Geheimnis hatten zweihundert Jahre Shakespeareforschung offenbar noch immer nicht lüften können: ob die Sonette überhaupt von Shakespeare waren. Dass es um seine Biografie viele Spekulationen gab, wusste ich. Aber was ich hier las, war mir neu. Und es klang wirklich rätselhaft.
Ich schlug sofort den Textteil auf und suchte das Deckblatt der Originalausgabe, das als Faksimile wiedergegeben war. So war die Gedichtsammlung also vor knapp vierhundert Jahren erschienen.
Das Rätsel befand sich auf der nächsten Seite. Hier stand eine Grußbotschaft des Verlegers, mit der die Sonettsammlung 1609 ihren Weg in die Unsterblichkeit begonnen hatte. Der Verleger der Gedichte musste damals geahnt haben, was für ein Jahrhundertwerk er der Öffentlichkeit übergab. Ich las den Widmungstext und genoss die barocke, sinnliche Sprache und die antiquierte Orthografie.
Dem alleinigen Schöpfer der nachfolgenden Sonette, übersetzte ich stumm im Kopf, Herrn W.H., wünscht der gutmeinende Unternehmer T. T. mit der Herausgabe alles Glück und die von unserem unsterblichen Dichter versprochene Ewigkeit.
Das war wirklich seltsam. Auf dem Titelblatt stand doch klar und deutlich, dass William Shakespeare der Autor der Sonette war. Warum wurde dann auf dem Widmungsblatt etwas anderes behauptet? Ich schlug erneut den Kommentarteil auf und las das Kapitel weiter, das sich mit dem Problem befasste. Wer sich hinter den Initialen am Ende
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