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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Cassidy
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    Es war spät abends, als Lauren in die Hazelwood Road ging, um sich das Haus anzusehen. Die Straße war dunkel und nass, der leichte Nieselregen warm. Sie trug eine Jacke, für die es eigentlich zu schwül war. Sie hatte sie bis zum Kinn zugeknöpft, als wollte sie sich darin verstecken. Eine Weile lief sie die Straße auf und ab und musterte die Häuser. Dann sah sie es. Nummer 49.
    Sie betrachtete es genau. Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an und wartete darauf, dass sich etwas in ihr regte. Eine Art Wiedererkennen. Gänsehaut. Herzklopfen. Aber nichts passierte. Es war einfach nur ein Haus, nicht anders als die Häuser rechts und links daneben oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
    Sie zog sich in den Schatten einer Hecke zurück und blickte zum Haus hinüber. Die Dunkelheit hatte die Farben verschluckt und die Umrisse verwischt. Trotzdem betrachtete sie es eingehend von oben bis unten, auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Ganz oben war das Dachfenster. Da musste sie früher herausgeschaut haben, als sie hier gewohnt hatte. Als Kind hatte ihr die Höhe sicher Angst gemacht. Weit unter ihr die Straße, die Autos und die Menschen. So weit unten. Was, wenn man aus dem Fenster fiel? Hatte sie sich als Kind nie diese Frage gestellt?
    Hinter dem großen Erkerfenster im Erdgeschoss brannte Licht. Schatten bewegten sich hin und her. Jetzt lebte hier eine andere Familie. Jessica hatte ihr gesagt, dass in den letzten zehn Jahren viele verschiedene Leute hier gewohnt hatten. Ein Bauunternehmer hatte das Haus gekauft und in drei separate Etagenwohnungen umgebaut, die er über kurze Zeiträume vermietete. Lauren dachte an all die Mieter, die in der mittleren Etage gewohnt haben mussten. Ob sie die Wahrheit über das Haus kannten? Ob irgendjemand ihnen davon erzählt hatte?
    Ein Auto kam die Straße entlang. Es sah aus wie ein Taxi. Im Scheinwerferlicht konnte sie den Regen fallen sehen, weich und fein wie ein Schleier. Im Wagen lief Musik und auf dem Rücksitz hinter dem Fahrer saß jemand und redete. Sie blickte wieder zum Haus. Im ersten Stock war das Licht angegangen. Sie wusste, dass es jetzt keine einzelnen Wohnungen mehr waren. Eine Familie hatte das Haus gekauft, und sie bauten es wieder so um, wie es früher gewesen war. Jessica hatte ihr davon erzählt, bevor sie aus Cornwall weggezogen waren. Es macht dir doch nichts aus, dass wir dann ganz in der Nähe wohnen? , hatte sie besorgt gefragt, und Lauren hatte sie beruhigt. Es macht mir nichts aus. Es ist zehn Jahre her. Ich war erst sieben. Da liegt ein ganzes Leben dazwischen.
    Und das stimmte. Zehn Jahre lang hatte sie bei Jessica und Donny gelebt, der Schwester ihrer Mutter und ihrem Freund. Nur sie drei. Fast die ganze Zeit über hatten sie in einem Haus am Stadtrand von St. Agnes gewohnt, einem kleinen Ort an der Nordküste Cornwalls. Es war das absolute Gegenteil zu London. Jede Menge Himmel und Meer, das Rauschen des Wassers immer im Hintergrund. In London gab es nicht viel Himmel, es gab nur endlose Steinmauern und eine ewig rollende Kolonne an Autos und Lastwagen. Grau, grau und noch mal grau. Damals, mit sieben, war ihr das noch nicht aufgefallen. Da war sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen. Mit ihrer Mutter, ihrer Schwester Daisy, ihren Spielsachen, ihren Schulfreunden. Das meiste davon war in ihrem Gedächtnis verblasst. Wie bei einem alten, vergilbten Foto, dessen Ecken sich bogen und auf dem die Gesichter fremd wirkten.
    Die Wagentür ging auf, und die Musik wurde lauter. Ein Junge stieg aus dem Auto und sagte etwas zum Fahrer. Dann schloss er die Tür und klopfte auf das Dach des Wagens. Er blieb im Regen stehen, während das Auto davonrollte. Lauren hörte das Spritzen, als die Reifen durch eine Pfütze fuhren. Sie starrte den Jungen an. Er war dünn und groß und hatte dunkle lockige Haare. Über der linken Schulter trug er einen großen Rucksack, neben ihm stand eine Reisetasche. Am Griff baumelten kleine Schilder, als käme er gerade vom Flughafen. Ihr Blick hob sich wieder zu seinem Gesicht, und sie merkte, dass er sie direkt anschaute. Sie erschrak. In ihrem Versteck hatte sie sich sicher gefühlt. Aber er sah gleich wieder weg, vielleicht hatte sie sich getäuscht. Sie machte einen kleinen Schritt zurück und spürte, wie sich die Zweige der Hecke in ihren Rücken bohrten.
    Der Junge ging zum Haus. Nummer 49. Als er vor der Tür stand, wurde sie schon von innen geöffnet, ein Rechteck aus Licht fiel auf den Weg.

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