Der gestohlene Abend
der Widmung verbarg, war offenbar geklärt. Der Verleger war bekannt. Er hieß Thomas Thorpe. Aber wer war W. H. ? Und warum wurde er als alleiniger Schöpfer der nachfolgenden Sonette bezeichnet, und nicht Shakespeare, unser unsterblicher Dichter?. Die Forschung zu diesem Thema war offenbar ebenso uferlos wie ergebnislos. Als wahrscheinlichste Kandidaten für W.H. galten William Herbert, William Hart, William Harvey, William Hathaway und noch etwa zwei Dutzend weitere Zeitgenossen Shakespeares. Und das waren nur die Ergebnisse der historisch orientierten Forschung. Seit den Sechzigerjahren waren psychoanalytische, strukturalistische und feministische Ansätze hinzugekommen und hatten einen ganz neuen Forschungszweig entstehen lassen. Man nahm mittlerweile an, die Widmung sei ein verdeckter Hinweis auf Shakespeares Homosexualität gewesen. Ein Mann, der natürlich ungenannt bleiben musste, jener W.H. eben, habe Shakespeare zu den Sonetten inspiriert. Daher sei dieser Unbekannte im übertragenen Sinne der begetter oder Erzeuger der Gedichte. Vor allem der dunkelste Teil der Gedichtsammlung, die berühmten Dark-Lady-Sonnets, bekam eine ganz andere Bedeutung, ja, wurde überhaupt erst interpretierbar. Es folgten mehrere Seiten Literaturhinweise auf einschlägige Untersuchungen zu dieser neuen Forschungsrichtung. Besonders wichtige Beiträge waren mit einem Sternchen markiert. An erster Stelle stand eine preisgekrönte Arbeit von 1985: Poetik im Spiegel geschlechtlicher Grenzerfahrung: Das Rätsel um W.H. — Trance-Sexualität in Shakespeares Sonetten. Von Marian Candall-Carruthers.
»Hallo Matthias.«
Ich fuhr herum. Winfried und ein weiterer Student, den ich nicht kannte, kamen auf mich zu.
»Auch hier in der Pestmeile? Wir haben beide kein Feuer, ist das zu glauben. Hilfst du uns aus?«
»Hi«, sagte ich zu dem Studenten und reichte ihm die Hand. »I'm Matthew. From Germany.«
»Wir können gern Deutsch reden«, sagte er. »Ich komme aus Hamburg. Theo.« Dann nannte er seinen Nachnamen. Ich schaute verdutzt, fand es jedoch unpassend, zu fragen, ob der Nachname etwas mit dem berühmten Verlag zu tun hatte.
Winfried feixte. Theo schnitt ihm eine Grimasse, setzte sich neben mich ins Gras und nahm mein Feuerzeug entgegen.
»Die Antwort lautet: Ja. Ich bin mit denen verwandt. Woher kommst du?«
»Berlin«, sagte ich. »FU.«
Winfried setzte sich ebenfalls, zog eine Packung Camel Lights aus der der Tasche und bot mir eine an. Sein Blick fiel auf meine Lektüre.
»Ist das für Shakespeare 101?«, wollte er wissen. »Ich dachte, du machst Film.«
Ich schüttelte den Kopf und erwähnte den Vorlesungszyklus.
»Hillcrest Talent?«, fragte Theo. »Nie gehört.«
»Doch, doch«, warf Winfried ein. »Der Zirkus läuft jedes Jahr. Vorsingen der Starstudenten.«
»Studierst du hier?«, fragte ich Theo, noch immer ein wenig verunsichert durch seinen klingenden Nachnamen. Aura, schoss es mir durch den Kopf.
»Ja.«
»Germanistik?«
»Nein. Kreatives Schreiben.«
»Gibt es das hier auch?«
»Ach, Kaffee und Kuchen«, seufzte Winfried völlig aus dem Zusammenhang. »Es fehlt einem ja doch. Ich geh mal eben Kaffee besorgen. Wollt ihr auch einen?«
»Nimm es ihm nicht übel«, sagte Theo, als Winfried verschwunden war. »Er kennt das Gespräch, das wir jetzt gleich führen werden, bis zum Überfluss. Jeder hier, der mich kennenlernt, fragt sich, warum jemand wie ich in Amerika Kreatives Schreiben studiert.«
Theo sprach sehr schnell, wie jemand, der es gewohnt ist, in Gesprächen zu dominieren. Wenn er mit einem Verlagshaus in Hamburg verwandt war, so war er jedenfalls kein hanseatischer Typ. Er war mindestens einen Kopf kleiner als ich und schon ein wenig rundlich, was vermutlich nicht an seiner Konstitution lag sondern daran, dass er keinen Sport trieb. Ein paar Stunden Brust- und Oberarmtraining die Woche und ein wenig Haltungsarbeit hätten bei ihm Wunder gewirkt. Wozu er bei dem herbstlichen, aber milden Wetter einen schwarzen Dufflecoat mit sich herumtrug, konnte ich mir überhaupt nicht erklären, bis er mehrere Taschenbücher aus den verschiedenen Taschen des schweren Kleidungsstücks herausholte, neben sich ins Gras legte und den Mantel zu einem Sitzpolster zusammenlegte.
»Dabei ist die eigentliche Frage, warum das nicht mehr Leute tun. Man geht ja auch nicht nach Norwegen, um Weinbau zu studieren. Warum also sollte man in Deutschland Schriftstellerei lernen.«
»Na hör mal«, sagte ich empört.
Er zog
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