Der gestohlene Abend
an seiner Zigarette und blies den Rauch in den blauen Himmel hinauf. »Es ist doch so: Deutsche Literatur verkauft sich heutzutage in der Welt etwa so gut wie norwegischer Wein. Alle zehn Jahre ein Ausnahmefläschchen, das zum Kassenknüller wird. Bisweilen der eine oder andere schräge Tropfen, der irgendeine Medaille bekommt und dadurch unter Kennern ein wenig bekannt wird, obwohl er niemandem so richtig schmeckt. Den Rest interessiert kein Schwein. Nicht einmal die Deutschen. Die lesen sowieso lieber Importware. Wenn Deutschland keine Industrienation wäre, sondern von Kulturprodukten leben müsste, dann stünden wir im internationalen Vergleich irgendwo hinter Albanien.«
Jetzt musste ich lachen.
»Bücher sind doch keine Autos oder Joghurts«, widersprach ich. »Das kann man doch nicht vergleichen.«
»Noch so eine deutsche Tradition«, erwiderte Theo trocken. »Kultur ist keine Ware. Nicht von der Literatur, sondern für sie soll der deutsche Dichter leben, oder besser: sterben. Bis ein Buch bei dir in der Einkaufstasche gelandet ist, unterliegt es den gleichen Gesetzen wie jede andere Massenware. Weißt du, was mein Onkel für einen mittelmäßigen britischen oder amerikanischen Roman an Lizenzgebühren hinlegen muss? Ein deutscher Autor kann froh sein, wenn er einen Bruchteil davon als Honorar bekommt. Auslandslizenzen verkauft er meistens gar nicht. Woran liegt das wohl?«
»Darüber weiß ich nicht Bescheid«, sagte ich.
»Natürlich nicht«, sagte Theo. »Darüber redet auch niemand gern. Es wäre schlecht für das Nationalgefühl. Die deutsche Literatur ist im Pfarrhaus entstanden. Sie kam aus einem völlig isolierten Milieu und hat sich nur mühsam daraus hervorgequält. Sie war von Anfang an weltlos, ohne Kontakt zu Politik und Kommerz, was nun mal ganz wesentliche Bereiche des Lebens sind. Dazu fehlt auch noch der Kontakt zum Volk, zum Populären. Bei uns ist das Populäre der Feind des Literaten. Ohne das Populäre entsteht aber nun mal keine Kunst. Nur Künstlichkeit. Aber was machst du eigentlich hier?«
Theo sprach sehr schnell, und was er sagte, weckte nichts als Widerspruch in mir.
»Im Moment Naturalismus und Kleist«, sagte ich. »Ich wollte eigentlich ins INAT, aber da lassen sie mich bis jetzt nicht hinein.«
»Ja, die nehmen sich ziemlich wichtig. Bei uns in der Lyrikabteilung gibt es ein paar Leute, die dort Kurse besucht haben.«
»Und?«
»Sie sind nicht lange geblieben. Es ist ja auch komisch, wenn angehende Autoren eine Literaturtheorie lernen sollen, die behauptet, dass es gar keine Autoren gibt.«
»Ganz so simpel ist es aber nicht«, entgegnete ich.
Winfrieds hagere Gestalt näherte sich uns wieder.
»Ach nein?«
»Nein. Das mit dem Tod des Autors ist doch nur ein Schlagwort. Es geht darum, die Texte selbst ernst zu nehmen und nicht alle Interpretationen an mehr oder minder verlässlichen Informationen über den Autor oder irgendwelche geschichtliche Dinge aufzuhängen. Texte wirken nun mal erst im Leser.«
Theo schüttelte den Kopf. »Aber bevor Texte im Leser wirken, haben sie im Autor gewirkt, als er sie geschrieben hat. Das ist doch nicht ganz unerheblich, findest du nicht?«
»Schon«, entgegnete ich. »Aber darüber weiß man ja oft nicht viel. Nimm die Sonette hier. Der Kommentar erklärt so gut wie jedes Wort, was es damals bedeutet hat, welche anderen Dichter ähnliche Stilfiguren verwendet haben und so weiter. Aber was bringt das schon? Erklärt das vielleicht das Wesen der Gedichte? Wie sie wirken?«
Theo rückte ein wenig zur Seite, um Winfried Platz zu machen, der ein Plastiktablett mit drei Pappbechern Kaffee und drei Blaubeermuffins zwischen uns abstellte.
»Schwarzwälder Kirsch war leider aus. Wo seid ihr denn gelandet?«
»Beim Tod des Autors«, gab Theo zurück und fuhr dann fort: »Es mag ja sein, dass nur die Wirkung interessiert. Aber warum nennt man das dann Wissenschaft?«
Darauf hatte ich keine Antwort. Aber Winfried hatte eine.
»Na ist doch klar: wegen der Fußnoten. Milch? Zucker?«
»Nur Zucker«, sagte Theo, und fügte dann hinzu: »Ich kenne hier im INAT einen Typen, der promoviert über die Werbesprache der südkalifornischen Weinindustrie.«
Die beiden schüttelten gleichzeitig die Köpfe. Ich fühlte mich herausgefordert von ihrem, wie ich fand, etwas eindimensionalen Blick.
»Werbesprache benutzt jede Menge poetischer Stilmittel«, sagte ich. »Sie steuert das Bewusstsein von Millionen Menschen. Warum soll man so eine Sprache
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