Der gestohlene Traum
Unglück.«
»Wann wird Larzew seine Tochter zurückbekommen? Können wir beide etwas tun, damit das so schnell wie möglich geschieht?«
Nastja antwortete nicht. Sie starrte schweigend in die halb leere Kaffeetasse, als könnte sie darin die Antwort auf Ljoschas Frage entdecken.
»Hörst du mich?«, fragte Ljoscha. »Was können wir tun, um Larzew zu helfen?«
»Ich fürchte, wir können gar nichts tun«, erwiderte Nastja mit kaum hörbarer Stimme.
»Wie meinst du das?«
»Erfahrungsgemäß werden Geiseln nicht wieder freigelassen.«
»Wie kannst du so eiskalt darüber sprechen? Es kann nicht sein, dass man nichts tun kann, ich glaube dir nicht. Du gibst dich einfach geschlagen, weil dir nichts einfällt. Komm zu dir, Nastja, wir müssen etwas tun.«
»Rede keinen Unsinn«, unterbrach Nastja ihn scharf. »Du kennst mich schlecht, wenn du glaubst, ich könnte mich geschlagen geben. Sie werden das Mädchen nicht wieder freigeben, weil es schon zu groß ist. Würde es sich um ein zwei-, dreijähriges Kind handeln, bestünde eine Chance, weil ein Kind in diesem Alter keine Zeugenaussagen machen kann. Aber ein elfjähriges Mädchen erinnert sich und kann alles beschreiben. Es wird erzählen, was es zu essen bekommen hat, worüber die Geiselnehmer miteinander gesprochen, welche Ausdrücke sie gebraucht haben, was man aus dem Fenster gesehen hat, welche Geräusche zu hören waren und vieles mehr. Und danach ist es nur noch eine Frage der Technik und der Geduld, sie zu finden. Deshalb wird eine Geisel niemals freigelassen. Es gibt bei Entführungen allerdings noch ein anderes Gesetz, und man kann nur hoffen, dass es auch in diesem Fall greifen wird.«
»Welches Gesetz?«
»Je mehr Zeit die Entführer mit ihrer Geisel verbringen, desto schwerer fällt es ihnen, sie zu ermorden. Sie fangen an, sich an sie zu gewöhnen, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Je länger sie Nadja festhalten, desto größer wird unsere Chance. Sie werden sie natürlich nicht einfach so wieder laufen lassen, aber sie werden sie vielleicht auch nicht umbringen, zumindest nicht gleich. Larzew will das alles nicht sehen, er ist verzweifelt und spielt ihr Spiel mit. Aber wenn sie richtige Profis sind, ist das Mädchen wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben.«
»Du bist ein Ungeheuer«, sagte Ljoscha entrüstet. »Wie kannst du nur so ruhig über solche Dinge sprechen?«
»Sag mir jetzt noch, dass ich eine moralische Missgeburt bin. Aber ich sehe die Dinge einfach nüchterner und realistischer als Larzew. Vielleicht deshalb, weil ich keine Kinder habe, in dieser Hinsicht hat er Recht. Aber wenn ich anfange, mir die Haare zu raufen, zu jammern und zu klagen, wird sich an der Situation auch nichts ändern. Wenn das Mädchen bereits tot ist, haben wir freie Hand und können tun, was wir für richtig halten, um die Verbrecher zu fassen, aber dann riskieren wir, dass Larzew hier auftaucht und uns tatsächlich umbringt. Und wenn Nadja noch am Leben ist, bleibt uns ebenfalls nichts anderes übrig, als hier zu sitzen und uns mucksmäuschenstill zu verhalten, um die Verbrecher nicht zu provozieren. Wir können nur hoffen und beten, dass es uns gelingt, sie so lange wie möglich hinzuhalten. Jeder Tag, jede Stunde, die Nadja in ihrer Gewalt verbringt, wird eine Folter für sie sein, ein Trauma, aber je länger es dauert, desto größer wird die Chance, dass sie am Leben bleibt. Darum sitze ich hier und überlege ununterbrochen, wie wir Zeit schinden können, ohne ihr Misstrauen zu wecken. Und du machst mir eine Szene, weil ich dich bitte, das Radio leiser zu stellen.«
»Ich entschuldige mich, mein Schatz. Einigen wir uns darauf, dass wir beide nicht Recht hatten. Aber du musst zugeben . . .«
Ljoscha wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen.
»Wie geht es dir, Nastjenka?«, erkundigte sich Knüppelchen besorgt.
»Schlecht, Viktor Alexejewitsch. Der Arzt war hier und hat mich für zehn Tage krankgeschrieben. Ich muss das Bett hüten, soll viel schlafen und darf mich nicht aufregen.«
»Du hast es gut«, seufzte Gordejew neidisch. »Und ich werde hier kübelweise mit Dreck übergossen.«
»Von wem?«
»Zuerst von Olschanskij. Sein Abteilungsleiter hat ihn zu sich gerufen und ihm den Marsch geblasen. Wenn ihr im Mordfall Jeremina nicht weiterkommt, hat er gebrüllt, dann gebt es ehrlich zu und stellt die Ermittlungen ein, anstatt so zu tun, als würdet ihr euch die Beine ausreißen. Nachdem er die Akte höchstpersönlich durchgelesen und
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