Der gestohlene Traum
Delikten verurteilt, die unter die Rubrik Trunksucht und Rowdytum fielen. In den kurzen Phasen zwischen seinen Lageraufenthalten ging er einer Arbeit nach und besserte sich vorübergehend, trank deshalb aber nicht weniger. Die Natur hatte Nafanja mit einer beneidenswerten Gesundheit ausgestattet, der der regelmäßige Alkoholkonsum nichts anhaben konnte. Auf seine alten Tage beschloss er, sich in der Nähe seiner Kinder und Enkel niederzulassen, und obwohl ihm klar war, dass diese keinerlei Zuneigung zu ihm hegten, hoffte er dennoch darauf, dass sie ihn nicht dem Schicksal eines hilflosen, gebrechlichen Alters überlassen würden.
Aufgrund seiner häufigen Lageraufenthalte hatte Opa Nafanja es nicht geschafft, in den Genuss einer Rente zu kommen, deshalb arbeitete er trotz seines Alters an drei verschiedenen Stellen als Wächter und verdiente sich außerdem da und dort noch etwas hinzu. Schließlich war es mit so einer Latte von Haftstrafen nicht gerade billig, sich eine Wohnberechtigung in Moskau zu verschaffen.
Morozow hatte Nafanja kennen gelernt, als er noch Oberleutnant war, weshalb dieser ihn stets »Oberst« nannte. Die beiden verband eine stabile, beinah herzliche Beziehung. Nafanja war Morozow zu nichts verpflichtet, aber von allen Milizionären, die die Dienste des Alten in Anspruch nahmen, war der »Oberst« der Einzige, der immer sofort bar bezahlte.
»Tag, Oberst«, sagte Nafanja zur Begrüßung, als er den Hauptmann in der Eingangshalle der Behörde erblickte, in der er heute Wache hielt.
»Tag, Opa«, erwiderte Morozow freundlich. »Wie geht’s, wie steht’s?«
»Nichts geht, alles steht«, sagte Nafanja wie üblich. »Was führt dich zu mir?«
»Ich möchte eine Tasse Tee mit dir trinken und mich ein bisschen unterhalten. Hast du Zeit?«
»Warum denn nicht, ist doch eine gute Sache, so eine Unterhaltung. Heute ist ein kurzer Arbeitstag, um eins gehen schon alle nach Hause, danach können wir uns in Ruhe ein Teechen gönnen und ein Schwätzchen machen. Oder brennt es bei dir?«
Morozow warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war Viertel vor zwölf. Einerseits kam es auf anderthalb Stunden nicht an, zumal diese Nebelkrähe von der Petrowka jetzt aus dem Spiel war, andererseits . . . Wie es der Teufel wollte . . .
»Ein bisschen brennt es schon«, gestand der Hauptmann.
»So ist das also«, grunzte der Alte zufrieden. »Sobald es brennt, kommt ihr alle zu Nafanja gelaufen, ohne mich geht bei euch nichts. Setz dich hierhin, in den Sessel, rück ihn näher zu mir heran, damit wir uns bequem unterhalten können und ich dabei noch das Telefon abnehmen kann. So weit habe ich es also gebracht!« Der Alte lächelte siegesgewiss. »Ich empfange die Miliz höchstpersönlich und biete ihr Platz in meinem Sessel an. Also, Oberst, sprich, wo drückt der Schuh?«
Das vertrauliche Geplapper des Alten konnte Morozow nicht täuschen. Er kannte Nafanja schon zu lange und zu gut, um seiner demonstrativen Freude darüber, dass er die Miliz empfangen durfte, Glauben zu schenken. Der Hauptmann wusste, was sich hinter seiner Freundlichkeit verbarg. Nafanja fragte sich angestrengt, was der »Oberst« wohl von ihm wollte und was er ihm sagen durfte und was nicht, um sich nicht den Zorn der anderen Seite zuzuziehen.
»Ich suche einen jungen Burschen, der Sascha Djakow heißt. Er ist verschwunden, und wir können ihn nicht finden.«
»Warum suchst du ihn denn? Hat er etwas angestellt, dieser Djakow, oder gibt es andere Gründe?«
»Du stellst vielleicht Fragen, Nafanja. Du weißt doch, dass ich bei der Vermisstenfahndung arbeite. Ich frage nicht danach, ob jemand etwas angestellt hat oder nicht, meine Aufgabe ist es, den Vermissten zu finden.«
»Und warum suchst du ihn ausgerechnet hier?«
»Er ist hier, im nördlichen Bezirk, polizeilich gemeldet. Und es gehört zum kleinen Einmaleins des Milizionärs, mit der Suche nach einer verschwundenen Person an ihrem Wohnort zu beginnen, bei der Familie, bei den Freunden.«
»Zählst du mich etwa zu seiner Familie oder zu seinen Freunden?«
»Ist gut, Opa Nafanja, genug gescherzt. Kannst du mir weiterhelfen?«
Aus Opa Nafanjas Gesicht verschwand in einem einzigen Augenblick das schalkhafte Grinsen. Den Namen Djakow hatte er noch nie gehört, das beruhigte ihn, und er begann, angestrengt darüber nachzudenken, wie er dem »Oberst« helfen könnte.
»Wo wohnt dieser Djakow?«
Nachdem Morozow ihm die Adresse genannt hatte, fielen dem Alten sofort die Orte ein, wo
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