Der gestohlene Traum
festgestellt hatte, dass seit dem sechsten Dezember keine einzige neue Unterlage hinzugekommen ist, hat er Kostja einen Nichtstuer geschimpft und ihm befohlen, sofort die Einstellung der Ermittlungen anzuordnen. Danach ist Kostja auf mich losgegangen, und ich habe ihm natürlich auch eine entsprechende Abreibung erteilt. Meine Ermittler wissen nicht, wo ihnen der Kopf steht vor Arbeit, und solche Untersuchungsführer wie er tun selbst überhaupt nichts, sondern warten nur darauf, dass andere ihnen die Fälle lösen. Und gleich darauf kam Gontscharow, du weißt schon, der Leiter der operativen Kräfte, angestürzt und hat mich ebenfalls beschimpft. Ihm würden hinten und vorn die Leute fehlen, und wenn ich ihm keine Personalanweisung vom General selbst vorlegen könne, würde er seine Leute von allen unseren Objekten abziehen. Insofern stehen jetzt alle, die im Mordfall Jeremina ermittelt haben, nackt da.«
»Dann lassen Sie sich doch eine Personalanweisung vom General geben, wo ist das Problem?«
»Ich habe es versucht.«
»Und?«
»Natürlich hat es nicht geklappt. Ich musste mir nur wieder anhören, dass wir alles falsch machen, du, ich und der ganze Rest. Du weißt es vielleicht noch nicht, aber ein Vorstandsmitglied der Junost-Bank wurde ermordet. Das ist jetzt der Fall Nummer eins, in den wir unsere gesamten Kräfte investieren müssen. So ungefähr ist die Lage.«
»Man setzt Ihnen ja ganz schön zu«, sagte Nastja mitfühlend.
»Das kann man wohl sagen. Außerdem habe ich das Gefühl, Kindchen, dass jemand alle Register zieht, um zu erreichen, dass die Ermittlungen im Mordfall Jeremina eingestellt werden.«
Jetzt ist alles aus, dachte Nastja und fühlte, wie eiskaltes Entsetzen in ihr aufstieg. Warum zum Teufel hat Gordejew das gesagt? Er hat nichts verstanden. Oder die Ärztin hat ihm nichts ausgerichtet. Alles ist aus.
»Und was nun?«, fragte sie vorsichtig.
»Nichts. Wir hatten ja sowieso vor, die Ermittlungen einzustellen, du hast mir ja heute Morgen selbst gesagt, dass alle Möglichkeiten zur Aufklärung des Falles ausgeschöpft sind. Und Kostja Olschanskij ist derselben Meinung! Wir mögen es einfach nur beide nicht, wenn man versucht, uns unter Druck zu setzen. Ich bin störrisch geworden auf meine alten Tage. Es ist ein großer Unterschied, ob man eine Entscheidung selbst trifft oder ob sie einem aufgezwungen wird. Früher hat man bekanntlich alles geschluckt, was von oben kam, aber die Zeiten haben sich schließlich geändert. Wenn man versucht, mich zu bevormunden, möchte ich zum Trotz genau das Gegenteil tun.«
»Regen Sie sich nicht auf, Viktor Alexejewitsch, die heutigen Chefs sind schließlich immer noch die von früher, was will man von ihnen erwarten? Sie verhalten sich so, wie sie es gewohnt sind, nach den alten Mustern. Ärgern Sie sich nicht, Ihre Gesundheit sollte Ihnen wichtiger sein«, sagte Nastja.
»Du hast völlig Recht. Jetzt, nachdem ich mich bei dir ausgeweint habe, ist mir sowieso schon wohler. Brauchst du vielleicht etwas? Lebensmittel, Medikamente?«
»Danke. Ljoscha ist bei mir, ich bin bestens versorgt.«
»Hör mal, soll ich dich vielleicht zu meinem Schwiegervater in die Klinik bringen, damit er dich mal anschaut? Immerhin ist es das Herz bei dir, damit spaßt man nicht.«
Gordejews Schwiegervater, Professor Woronzow, leitete ein großes Herzzentrum in Moskau und genoss weltweite Anerkennung als Herzspezialist.
»Nicht nötig, ich liege noch nicht im Sterben«, sagte Nastja scherzhaft. »Ich ruhe mich ein paar Tage aus, dann bin ich wieder völlig in Ordnung.«
»Wie du meinst. Ruf an, wenn du etwas brauchst.«
Nastja legte den Hörer auf und setzte sich aufs Sofa, um sich zu beruhigen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Knüppelchen war in das Spiel eingestiegen. Jetzt war sie, Nastja, am Zug.
* * *
Nachdem Jewgenij Morozow sich von Nastja verabschiedet hatte, machte er sich mit Vergnügen allein an die Arbeit. Zuallererst wollte er versuchen, den spurlos verschwundenen Sascha Djakow zu finden, und begab sich in den nördlichen Bezirk, wo Djakow polizeilich gemeldet war und wo außerdem ein zuverlässiger Informant von Morozow wohnte. Der Informant hatte einen komplizierten Namen, er hieß Nafanail Anfilochijewitsch, aber seine Bekannten nannten ihn einfach Nafanja oder Opa Nafanja, da er inzwischen alt geworden war.
Opa Nafanja hatte zahllose Haftstrafen hinter sich, aber er gehörte nicht zur kriminellen Elite, sondern wurde hauptsächlich wegen
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