Der gestohlene Traum
Aber so drücken die beiden alle zwei Wochen ein kleines Sümmchen ab und merken nicht, worauf sie sich eingelassen haben. Mal knapsen sie etwas von ihrem Taschengeld ab, was ihnen nicht allzu schwer fällt, weil ihre Eltern Kohle haben und gut für sie sorgen, mal pumpen sie ihre Freunde an, mal verkaufen sie etwas, das sie nicht mehr brauchen, mal betteln sie ihre Eltern um Geld an, weil sie angeblich ein Geschenk für ihre Freundin kaufen müssen. Sie wollen natürlich nicht ins Kittchen, und auf den ersten Blick verlange ich ja nicht viel.«
Der viel versprechende Anfang des zweifelhaften Unterfangens weckte Hoffnungen in Vitalij und Lena, sodass sie zwei Monate später, im Dezember des Jahres neunzehnhundertsiebzig, heirateten, obwohl sie weiterhin getrennt lebten, jeder in seiner Gemeinschaftswohnung.
Ende November, an dem Tag, als Vitalij die nächste Summe abholen ging, wartete Lena umsonst auf die Rückkehr ihres Mannes. Gegen Morgen des nächsten Tages erschien die Miliz bei ihr und eröffnete ihr, dass Vitalij von einer betrunkenen Prostituierten in deren eigenem Bett ermordet worden war. Am darauf folgenden Tag erschien der Untersuchungsführer und wollte von Lena wissen, was ihr Mann bei der trunksüchtigen Jeremina zu suchen gehabt hätte, ob er sie gekannt hätte und wo er im Laufe dieses Tages von Rechts wegen hätte sein müssen. Natürlich sagte Lena weder etwas von der Vergewaltigung noch von der Erpressung. Und von einer Tamara Jeremina hatte sie tatsächlich noch nie etwas gehört.
Am Ende der Ermittlungen und der Gerichtsverhandlung war Lena Lutschnikowa bereits im achten Monat schwanger. Vitalijs Eltern, die zur Gerichtsverhandlung gekommen waren, nahmen sie mit in die Provinz. Lena war davon nicht begeistert, aber sie wagte nicht zu widersprechen. Sie fühlte sich schuldig am Tod ihres Mannes. Wenn sie damals nicht auf ihn gehört und die Täter angezeigt hätte, hätte er sie nicht erpressen können und wäre folglich an jenem Tag nicht das Geld abholen gegangen. Er hätte diese schreckliche Frau nicht kennen gelernt und wäre nicht ermordet worden. Diese Gedankengänge erschienen Lena logisch und folgerichtig, deshalb fühlte sie sich verpflichtet, Vitalijs Eltern zu folgen und ihnen nach dem Tod ihres Sohnes beizustehen und sie mit der Gegenwart ihres Enkelkindes zu beglücken.
Als Nina zwölf Jahre alt geworden war, heiratete Jelena Petrowna zum zweiten Mal, diesmal den Direktor der örtlichen Mittelschule. Die Ehe war sehr glücklich, aber sie währte nicht lange. Sieben Jahre später durchbrach ein betrunkener LKW-Fahrer den Zaun vor ihrem Haus und raste auf das Grundstück. Lenas Mann war nicht mehr zu retten . . .
»Wissen Sie, manchmal glaube ich, dass mein Leben aus einer Kette von unglücklichen Zufällen besteht, an denen ich schuld bin«, sagte die Lutschnikowa mit einem traurigen Lächeln, während sie Andrej Tee nachgoss und die Schale mit Konfitüre auffüllte. »Auch am Tod meines zweiten Mannes fühle ich mich schuldig. Er hat an jenem Morgen die Außentreppe unseres Hauses repariert, ich habe ihm einen ganzen Monat lang damit in den Ohren gelegen, weil das Holz der untersten Stufe durchgefault war, und am Morgen dieses Tages habe ich ihn fast mit Gewalt gezwungen, sich die Sache vorzunehmen. Er machte sich an der untersten Stufe zu schaffen, und ich stand oben und sah zu. Diese verfluchte Treppe . . . Manchmal scheint es, als wären es immer irgendwelche Kleinigkeiten, die den Menschen das Leben zerstören.«
»Jelena Petrowna, haben Sie wirklich nicht gewusst, wie und wo Ihr Mann Tamara Jeremina kennen gelernt hat?«
»Nein, ich habe es wirklich nicht gewusst. Ich habe ihren Namen damals zum ersten Mal gehört.«
»Und Gradow und Nikifortschuk?«
»Was ist mit Gradow und Nikifortschuk?«
»Haben Sie diese Namen schon einmal gehört? Waren das vielleicht Freunde Ihres Mannes?«
»Schöne Freunde«, sagte Jelena Petrowna mit einem müden Seufzer. »Sie waren keine Freunde, sondern Feinde. Diejenigen, die Vitalij erpresst hat. Woher kennen Sie diese Namen? Ich habe sie doch kein einziges Mal erwähnt.«
»Und warum haben Sie sie nicht erwähnt? Sie haben so ausführlich berichtet, aber die Namen haben Sie weggelassen. Hat Sie jemand darum gebeten, oder hat man Ihnen sogar gedroht, Jelena Petrowna?«
»Gott bewahre. Wer sollte mich schon um so etwas bitten öder mir gar drohen! An mir hat niemand Interesse. Ich wusste nur nicht, ob ich die Namen nennen soll oder
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