Der gestohlene Traum
Zubettgehen regelmäßig seinen Hund ausführte, einen festen, gesunden Schlaf, und wenn er sich eine Nacht um die Ohren schlagen musste, litt er am nächsten Tag unter Schwäche und Kopfschmerzen. Nachdem er Sergej Bondarenko am frühen Morgen bei dessen Frau abgeliefert hatte, widerstand er dennoch seinem Drang, wieder nach Hause zu fahren und sich noch ein wenig aufs Ohr zu legen, und machte sich daran, Nastjas Auftrag zu erfüllen. Er musste die Familie des Mannes finden, den die betrunkene Tamara Jeremina vor dreiundzwanzig Jahren umgebracht hatte. Es stellte sich heraus, dass Vitalij Lutschnikow kurz vor seiner Ermordung geheiratet hatte, aber die junge Witwe hatte gleich nach seiner Beerdigung Moskau verlassen und war in die Gegend von Brjansk gezogen, zu Verwandten ihres verstorbenen Mannes, die sich bereit erklärt hatten, sie und ihr ungeborenes Kind aufzunehmen. Weder Lutschnikow selbst noch seine Frau hatten Verwandte in der Stadt, da sie beide nicht aus Moskau stammten, sondern als Zeitarbeiter in die Stadt gekommen waren.
Nachdem Andrej sich den Zugfahrplan angesehen hatte, kam er zu dem Schluss, dass es bequemer war, mit dem Auto zu fahren. Das einzige Problem bestand darin, dass er nicht mehr genug Geld zum Tanken hatte. Nachdem Tschernyschew die finanzielle Lage geklärt hatte, machte er sich auf den Weg in Richtung Brjansk.
Gegen zehn Uhr abends hatte er den Wohnort von Jelena Lutschnikowa erreicht. Die Tür öffnete ihm ein liebreizendes junges Mädchen mit dem Ausdruck offensichtlicher Empörung im zarten Gesicht. Wahrscheinlich hatte sie jemand anderen erwartet, denn als sie Andrej auf der Schwelle erblickte, wurde sie sofort zugänglich.
»Wollen Sie zu uns?«, fragte sie freundlich.
»Wenn ich hier bei den Lutschnikows bin, dann ja. Ich würde gern mit Jelena Petrowna sprechen.«
»Mama«, rief das Mädchen. »Du hast Besuch.«
»Und ich habe gedacht, dass Denis dich abholen kommt«, erwiderte eine tiefe Frauenstimme aus dem Innern der Behausung. »Lass den Gast nicht draußen stehen, Nina, bring ihn herein.«
Nina öffnete die Tür zu einer riesigen hellen Küche, in der es nach Teig und Gewürzkräutern roch. Am Tisch saß eine füllige Frau und strickte. Sie hatte helle Augen und ein schönes, sympathisches Gesicht, das von einem dicken Zopf umrahmt war.
Die Frau des Hauses zeigte weder Verwunderung noch Befremden, als sie erfuhr, wer Andrej war. Er hatte aus irgendeinem Grund den Eindruck, dass sie schon lange auf jemanden wartete, der kommen und sich nach den Umständen erkundigen würde, unter denen ihr Mann sein Leben gelassen hatte. Andrej nahm sich vor, diesen seltsamen Eindruck am Ende des Gesprächs unbedingt zu überprüfen.
Nina brach mit ihrem Bräutigam, der inzwischen eingetroffen war, zu einem Spaziergang auf, was Andrej allerdings verwunderte, da es draußen nasskalt und längst dunkel war. Aber in Wahrheit gingen die beiden wahrscheinlich gar nicht spazieren, sondern zu Freunden, die ihrerseits spazieren gehen und dem jungen Paar die Wohnung überlassen würden.
Allein mit Tschernyschew, begann Jelena Petrowna sofort freimütig davon zu erzählen, was im Jahr neunzehnhundertsiebzig geschehen war. Sie sprach mit leiser, ruhiger Stimme, so, als würde sie aus einem ihr gut bekannten, aber völlig uninteressanten, langweiligen Buch vorlesen.
Sie hatte Vitalij neunzehnhundertneunundsechzig kennen gelernt, er war in die Gemeinschaftswohnung gekommen, in der Jelena damals wohnte, um einen Bekannten zu besuchen. Es war nicht einfach für die beiden, sich zu treffen, denn sie arbeiteten an entgegengesetzten Enden der Stadt und wohnten in sehr beengten Verhältnissen, Vitalij mit fünf, Jelena mit vier Personen in einem Zimmer. Sie hätte nicht sagen können, dass sie Vitalij sehr liebte und ohne ihn nicht leben konnte, trotzdem freute sie sich, wenn sie ihn sah. Irgendwie kamen sie über den Winter und den nassen, windigen Frühling, und im Sommer wurde dann alles einfach. Sie stimmten ihre Schichtarbeit aufeinander ab, und an ihren freien Tagen fuhren sie hinaus aus der Stadt, in den Wald. An einem dieser Tage schlummerte Lena, schläfrig geworden von der Sonne, im Schatten eines Baumes ein, und Vitalij beschloss, auf Pilzsuche zu gehen, solange seine Freundin schlief.
Lena erwachte von der Berührung einer Hand in ihrem Gesicht. Sie öffnete die Augen und wollte sich aufrichten, aber sie wurde zu Boden gedrückt.
»Halt still, du Dummerchen, keine Angst. Es tut nicht
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