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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Vermittler aktiv werden. Gleich am nächsten Tag begann Arsenn damit, seine Theorie in die Praxis umzusetzen. Er entnahm dem großen Schrank in seinem Büro die persönlichen Akten von zwanzig KGB-Mitarbeitern, und selbst bei flüchtiger Durchsicht fielen sieben Personen auf, die zu Recht der Ansicht waren, dass man sie schlecht behandelt hatte. In ihren Personalbogen entdeckte Arsenn unerklärliche Herabsetzungen in der Dienststellung und windige, stümperhafte Vollstreckungsbefehle. Es fanden sich auch andere auffällige Details: unmotivierte Verleihungen von Dienstgraden, Unregelmäßigkeiten beim Durchlaufen der Attestationskommission, Vermerke über Jahresurlaube im späten Herbst oder vor Frühjahrsbeginn und tausend andere Abweichungen von der Norm, aus denen man schließen konnte, wer grünes Licht bekam und wer ausgebremst wurde. Besonderes Augenmerk richtete Arsenn auf diejenigen, bei denen es klar war, dass man ihnen in Kürze die Pensionierung nahe legen würde.
    Nach zweieinhalb Monaten nahm die von Arsenn aufgebaute Vermittlungsorganisation ihre Arbeit auf. Ihre Kunden waren hochkarätige Mafiosi und Mitglieder organisierter Verbrecherbanden, mit denen sich der KGB befasste. Diejenigen, die einen Vertrag mit der Organisation abgeschlossen hatten, brauchten vor der Miliz keine Angst mehr zu haben. Sie hatten es nicht mehr nötig, den Gang der Ermittlungen zu beobachten und Wege zu Kripobeamten und deren Vorgesetzten zu suchen. Diese und zahlreiche andere Aufgaben übernahmen jetzt Leute, die Arsenn sorgfältig ausgewählt hatte. Sie kannten die Mitarbeiter der einzelnen Abteilungen des KGB sehr gut und wussten, wie und womit man jemanden »kriegen« konnte, wie und womit man ihn zum Sprechen bringen musste, um in den Besitz der nötigen Information über den Stand der Ermittlungen in diesem oder jenem Fall zu gelangen. Sie wiesen auf Zeugen hin, die belastende Aussagen machten, und unterbreiteten ihren Klienten Vorschläge, wie man diese Zeugen am wirksamsten unter Druck setzen konnte, damit sie aufhörten, die Schuldigen zu belasten. Die Hauptaufgabe der Vermittler bestand darin, zu verhindern, dass Verbände mit gegensätzlichen Interessen dieselben Beamten für ihre Zwecke anwarben, denn derartige Kollisionen hätten zu nichts Gutem geführt, weder für die Vermittler selbst noch für ihre Klienten.
    Die Arbeit lief gut, und allmählich weitete Arsenn seinen Aktionsradius auf die Organe für Inneres aus. Zu jener Zeit saßen in allen diesen Behörden seine Freunde aus dem KGB, getarnt als Kader oder als Politarbeiter. Arsenn träumte bereits von einer landesweiten Vermittlungsorganisation, die zum Bindeglied zwischen dem organisierten Verbrechen und der Justiz, einschließlich Gericht und Staatsanwaltschaft, werden sollte. Er zweifelte nicht an der Richtigkeit seines Kalküls. Die Anzahl der ernst zu nehmenden kriminellen Verbände nahm rasant zu, während man vorläufig nicht vorhatte, den Personalbestand des Justizapparates zu vergrößern. Bestenfalls würde es zu geringfügigen Personalaufstockungen kommen, wie man sie schon früher vorgenommen hatte, aber zu spürbaren Verbesserungen bei der Verbrechensbekämpfung hatte das nie geführt. Die Nachfrage würde immer größer bleiben als das Angebot, solange es sich um eine unorganisierte, chaotische Nachfrage handelte. Und er, Arsenn und sein Kontor, waren dazu bestimmt, Angebot und Nachfrage zu regeln.
    In der Theorie schien alles denkbar einfach zu sein, aber in der Praxis musste Arsenn sich von seinem Traum verabschieden und mit weniger zufrieden geben. Er begriff schon sehr bald, dass eine landesweite Organisation sich nicht realisieren ließ. Das Risiko war zu groß, ein einziges schwaches Glied in der Kette konnte alles zunichte machen. Zur Wahrung der Konspirativität war es besser, sich in kleine Gruppen aufzuteilen, die die einzelnen Justizbehörden kontrollierten, und nur einige wenige Leute einzusetzen, die die Arbeit der Gruppen auf oberster Ebene koordinierten. Es fiel Arsenn schwer, sich von seinem Traum von dem Riesenkraken zu verabschieden, der mit seinen Fangarmen das gesamte System der Verbrechensbekämpfung umschlingen würde, aber sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass eine Kette kleiner, voneinander unabhängiger Vermittlungskontors unvorhersehbaren Schwierigkeiten und Krisen sehr viel besser standhalten konnte. Arsenn war nicht ehrgeizig, er verlangte nicht nach Ruhm und Geld, es dürstete ihn nicht nach Macht. Sein

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