Der gestohlene Traum
weh, es wird dir gefallen«, hörte sie eine fremde Männerstimme sagen.
Sie wollte Luft holen und nach Vitalij schreien, aber sie brachte nur ein Röcheln hervor. Die Hand des Fremden hielt ihr den Mund zu. Gleich darauf traf sie ein Schlag ins Sonnengeflecht und ein nächster in den Bauch. Sie verlor das Bewusstsein vor Schmerz. Als sie wieder zu sich kam, lag einer der Männer auf ihr, der andere kniete neben ihr und hielt ihre Arme fest. Als er bemerkte, dass sie die Augen geöffnet hatte, griff er sofort nach ihren Schultern, hob sie an und schlug ihren Hinterkopf auf die Erde. Sie stürzte erneut in die gnädige Dunkelheit. Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, waren ihre Peiniger fort. Die Sonne ging bereits unter, und Lena begriff, dass inzwischen viel Zeit vergangen war. Wo ist Vitalij geblieben?, fragte sie sich voller Entsetzen. Die Angst um ihn war größer als der Schrecken über das, was ihr selbst soeben widerfahren war. Wahrscheinlich war er zurückgekommen, hatte sich auf die beiden Männer gestürzt, und sie hatten ihn umgebracht, dachte sie. Er ist so weich, so schutzlos, gegen solche Bullen wie die kommt er nicht an.
Lena begann zu schreien, nach Vitalij zu rufen, aber es war umsonst. Zuerst fürchtete sie, den Ort zu verlassen, an dem er sie schlafend zurückgelassen hatte, sie hoffte immer noch, er würde zurückkommen. Aber als es dunkel wurde, machte sie sich auf den Weg zur Straße und trottete in Richtung Bahnstation. Sie hatte sich innerlich bereits von ihrem heldenhaften Geliebten verabschiedet und traute ihren Augen nicht, als sie ihn auf dem Bahnsteig erblickte.
»Ich habe sie aufgespürt«, flüsterte er aufgeregt, während er Lena die Tränen trocknete.
»Wen?«, fragte sie verständnislos.
»Na diese Kerle . . . die dich . . .«
»Du guter Gott«, schluchzte sie auf, »ich habe geglaubt, sie hätten dich umgebracht. Zum Glück hast du keine Schlägerei mit ihnen angefangen. Lass uns zur Miliz gehen.«
»Zur Miliz? Wozu?«
»Du sagst doch, dass du sie aufgespürt hast. Wir erzählen der Miliz alles, man soll sie verhaften und einbuchten, diese Schweine.«
»Bist du noch bei Trost?«, widersprach Lutschnikow entrüstet. »Wir haben das große Los gezogen, und du redest von Miliz.«
Während Sie auf die S-Bahn warteten, eröffnete Vitalij Lena seinen großartigen Plan. Er hatte die beiden jungen Männer, die seine Freundin vergewaltigt hatten, tatsächlich aufgespürt und wollte sie nun erpressen. Das war nach seiner Ansicht sehr viel besser und vielversprechender als eine Anzeige. Wenn man es richtig anstellte, konnte man den beiden eine Summe aus der Tasche ziehen, die als Schmiergeld ausreichen würde, um Mitglied bei der Wohnungsbaugenossenschaft zu werden. Dann würde einer Heirat nichts mehr im Wege stehen. Solange sie in verschiedenen Gemeinschaftswohnungen leben mussten, in denen Ehepaare nicht zugelassen waren, war für sie kein Glück in Sicht.
»Sogar dann, wenn ich genügend Geld hätte, könnte ich nicht Mitglied bei der Wohnungsbaugenossenschaft werden, weil ich noch keine fünf Jahre in Moskau lebe«, erklärte Vitalij der immer noch schluchzenden Lena geduldig. »Ich müsste ein so riesiges Schmiergeld bezahlen, dass es für zwei Wohnungen reichen würde.«
Lena hörte nur mit halbem Ohr hin und dachte daran, dass Vitalij, um den sie so große Angst gehabt hatte, dass sie darüber ihr eigenes Unglück vergessen hatte, die ganze Zeit hinter den Büschen gestanden, die zwei Kerle, die sie vergewaltigten, beobachtet und sich dabei ausgerechnet hatte, welchen Nutzen er daraus ziehen konnte. Er hatte sie bewusstlos im Wald zurückgelassen und war den Männern bis zur Stadt gefolgt, um herauszufinden, wo sie wohnten. Dann war er zurückgekommen, wenn auch erst gegen Abend, als es bereits dunkel und unheimlich wurde im Wald, aber immerhin war er zurückgekommen . . .
Zunächst lief alles wie geplant. Die ersten Summen gingen regelmäßig ein, pünktlich alle zwei Wochen.
»Die Hauptsache ist es, sie nicht zu verschrecken«, sagte Vitalij mit gewichtiger Miene, während er das Geld nachzählte und in das Kuvert schob, in dem er es später zur Sparkasse bringen würde. »Wenn ich gleich fünftausend von ihnen verlangt hätte, wären sie in Ohnmacht gefallen und dann zu ihren Eltern gelaufen. Sie hätten ihnen irgendein Märchen aufgetischt, und wir beide hätten in der Tinte gesessen. Wer hätte uns schon geglaubt? Wir sind Zeitarbeiter, auf uns gibt niemand etwas.
Weitere Kostenlose Bücher