Der gestohlene Traum
machen. Schau nicht so verdrossen drein, freu dich lieber.«
»Worüber sollte ich mich freuen, Viktor Alexejewitsch? Diese Geschichte mit dem Telefon . . .«
»Ich weiß«, sagte Gordejew unerwartet scharf. »Ich habe es auch gemerkt, ich bin nicht blind. Aber das ist kein Grund zur Aufregung, sondern einer zum Nachdenken. Vergiss übrigens nicht, mir den Apparat zurückzugeben, ich habe Wyssokowskij mein Ehrenwort gegeben, dass er ihn nach ein paar Stunden zurückbekommt. Ich hätte mich mit diesem Geizhals nicht eingelassen, wenn er nicht der Einzige wäre, der genau denselben Apparat hat wie du. Jetzt hör auf, Trübsal zu blasen, Nastja! Kopf hoch und lächeln, komm schon!«
»Ich kann nicht, Viktor Alexejewitsch. Solange ich geglaubt habe, dass er der Einzige ist, war ich nur enttäuscht und bedrückt. Aber seit mir klar ist, dass es mindestens zwei sind, habe ich Angst. Das ändert schließlich alles. Und deshalb sehe ich keinen Grund zu Freude oder Optimismus und kann, im Gegensatz zu Ihnen, keine Scherze machen und lächeln.«
»Ich habe alle meine Tränen schon geweint, Nastjenka«, sagte der Oberst leise. »Jetzt bleibt mir nur noch das Lächeln. Als ich begriffen habe, dass er nicht der Einzige ist, hat sich in einem einzigen Moment alles verändert. Vorher konnte ich mir sagen: Du musst nur herausfinden, wer der Wolf im Schafspelz ist, du musst ihn aus der Abteilung und aus der Miliz überhaupt entfernen, dann wird alles wieder seine Richtigkeit haben. Aber inzwischen sieht die Sache ganz anders aus. Wenn es zwei sind oder sogar mehr, dann habe ich die Situation nicht mehr unter Kontrolle, dann kann ich nichts mehr tun. Sollten es wirklich nur zwei sein, ist vielleicht noch etwas zu machen. Aber wenn wir es mit einer organisierten Unterwanderung der Polizeiarbeit zu tun haben, sind wir machtlos. Dann kann ich nur noch in Pension gehen.«
»Und alles aufgeben, was Sie mit so viel Mühe und Liebe aufgebaut haben?«
»Ich war ein Idealist, ich habe geglaubt, dass wir nur gute und ehrliche Arbeit leisten müssen, dass alles nur von uns selbst abhängt, von unserem Wollen und Können. Ich habe versucht, euch zu motivieren, das Beste aus euch herauszuholen, und niemand wird behaupten können, dass ich damit ganz erfolglos war. Erinnere dich, wie viele Fälle, die früher klammheimlich unter den Tisch gefallen sind, wir in den letzten Jahren dem Gericht zugeführt haben. Kein Anwalt kam gegen uns an, weil in jedem von uns selbst so ein Anwalt steckt und wir jeden Beweis, jede Tatsache mit noch strengeren, noch unerbittlicheren Augen betrachtet haben als er selbst. Ja, ich habe erreicht, was ich wollte. Aber das Kind, das ich mit so viel Liebe großgezogen habe, hat sich als lebensunfähig erwiesen, weil normale, gesunde Kinder in unserer Umwelt keine Überlebenschance haben. Sie können dem Druck des materiellen Anreizes nicht standhalten, sie sind zum Tode verurteilt. So traurig das auch ist.«
»Und wenn es doch kein System ist, sondern Zufall? Oder ein System, das man sprengen und vernichten kann?«, wandte Nastja zaghaft ein. Die Aussicht, einen Vorgesetzten wie Knüppelchen zu verlieren, war alles andere als erfreulich für sie. Er war es, der sie seinerzeit aus der Bezirksverwaltung für Inneres in die Petrowka geholt und ihr die Auswertungsarbeit ermöglicht hatte, die sie so liebte. Kein anderer Vorgesetzter würde ihr erlauben, Tag für Tag in ihrem Büro zu sitzen und Planspiele mit Zahlen, Fakten, Beweisen und fragmentarischen Informationen zu machen, vereinzelte, rätselhafte Mosaiksteinchen zu diffizilen Mustern zusammenzusetzen. Nicht zu reden davon, dass Nastja den komischen, dicken, glatzköpfigen Oberst sehr liebte und zutiefst verehrte.
»Man darf sich nicht selbst betrügen, Kindchen. Natürlich werden wir versuchen, alles zu tun, was in unseren Kräften steht, sonst wären wir keinen Pfifferling wert, aber wir dürfen nicht auf Erfolg hoffen. Hier geht es nicht um das Ziel, das wir sowieso nicht erreichen werden, sondern nur um den Weg. Das Resultat ist uns von vornherein bekannt, wir werden nichts daran ändern, und insofern können wir uns entspannen. Wir werden Fehler machen, je mehr, desto besser, denn an Fehlern lernt man. Man muss aus jeder Situation den größtmöglichen Nutzen ziehen . . .«
* * *
Nach der schlaflosen Nacht fühlte Andrej Tschernyschew sich ausgesprochen schlecht. Im Gegensatz zu Nastja, die Schlaflosigkeit gewöhnt war, hatte Andrej, der vor dem
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