Der gestohlene Traum
wenn man den Sinn einer Sache nicht verstand, konnte man nicht richtig reagieren, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah. Aber wenn jemand den Sinn verstand, dann war es wiederum so, dass er bereits zu viel wusste und gefährlich werden konnte. . .
* * *
Als das Telefon läutete, zuckte Nastja zusammen, aber Ljoscha Tschistjakow hob ab, ohne Notiz davon zu nehmen. Er glaubte inzwischen nicht mehr daran, dass Nastja jemals wieder selbst ans Telefon gehen würde.
»Ich vermute, Anastasija Pawlowna ist nicht zu Hause, wie immer«, hörte Ljoscha den Mann sagen, mit dem er bereits letzte Nacht gesprochen hatte. »Bitte seien Sie so freundlich und richten Sie ihr aus, dass ich wieder angerufen habe und sie bitte, sich einmal Jack London vorzunehmen, besonders die Erzählungen aus Band fünf.«
»Was genau soll ich ihr ausrichten? Dass sie diese Erzählungen lesen soll?«
»Richten Sie ihr aus, dass jeder ihrer künftigen Schritte mit Unannehmlichkeiten verbunden sein wird.«
»Mit welchen Unannehmlichkeiten?«
»Das ist alles bei Jack London beschrieben, sie soll es nachlesen.«
Ljoscha hörte das Klicken in der Leitung und sah auf seine Armbanduhr. Es war ihm nicht gelungen, den Anrufer länger als drei Minuten in ein Gespräch zu verwickeln, worum Nastja ihn gebeten hatte. Die Nummer war nicht auf dem Display erschienen, da der Anruf erneut aus einer Telefonzelle gekommen war.
»Tut mir Leid«, sagte er mit einem schuldbewussten Lächeln. »Ich habe mir Mühe gegeben, aber es hat nichts genutzt. Er hat gebeten, dir auszurichten, dass du den fünften Band der gesammelten Werke von Jack London lesen sollst. Und dass jeder deiner künftigen Schritte mit Unannehmlichkeiten verbunden sein wird.«
Nastja saß bewegungslos am Küchentisch, ihre Hand umklammerte einen silbernen Teelöffel. Sie hatte den Löffel gerade an seinen Platz legen wollen, es aber sofort vergessen, nachdem sie begriffen hatte, wer der Anrufer war. Sie spürte ihre Arme und Beine nicht mehr, sie waren wie abgestorben. Sie musste jetzt die Kraft finden aufzustehen, dann musste sie bis zur Wohnungstür gehen, hinaus ins Treppenhaus und dann weiter, bis zur Wohnung von Margarita Iossifowna. Sie musste unbedingt anrufen und sich erkundigen . . . Aber es war so weit bis dorthin! Sie war sich sicher, sie würde unterwegs hinfallen und nie wieder aufstehen. Zum Teufel mit diesem Telefon!, sagte sie sich. Sollten sie doch ruhig mithören! Es wäre ja ausgesprochen dumm, nicht vom eigenen Telefon aus anzurufen. Dieser Mann hatte ihr soeben eine Information übermittelt, und es war klar, dass sie diese Information sofort überprüfen würde. Täte sie das nicht von ihrem eigenen Telefon aus, würden sie mit Sicherheit auf die Idee kommen, dass sie zum Telefonieren des Öfteren zu Nachbarn ging.
Nastja nahm den Hörer ab und wählte rasch Tschernyschews Nummer. Dann warf sie einen abwesenden Blick auf Ljoscha, der am Herd stand und ihr schon zum vierten Mal dieselbe Frage stellte.
»Soll ich dir den Band von Jack London bringen?«
»Wie bitte? Nein, nicht nötig.«
»Interessiert es dich nicht?«
»Ich habe Angst.«
»Warum?«
»Weil er bestimmt die Erzählung ›Der Midas Clan‹ meint. Und damit will er mir sagen, dass jeder Zeuge, mit dem ich es zu tun habe, sterben wird.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Ljoscha skeptisch, ließ sich vorsichtig auf einem Küchenhocker nieder und nahm Nastja den Silberlöffel aus der immer noch fest zusammengepressten Hand.
»Bald werde ich es genau wissen.«
»Vielleicht irrst du dich. Vielleicht gibt es noch eine andere Erzählung, die zur Situation passt.«
Nastja schüttelte resigniert den Kopf.
»Nein, ich erinnere mich sehr gut. In meiner Kindheit habe ich sämtliche Erzählungen in diesem Band mindestens zehn Mal gelesen.«
»Es könnte ja sein, dass er eine andere Ausgabe meint, in der Band fünf ganz andere Erzählungen enthält.«
»Ljoschenka, Lieber, du brauchst mich nicht zu beruhigen. Es geht um genau diese Ausgabe, weil sie in meinem Bücherschrank an der sichtbarsten Stelle steht. Und derjenige, der in meiner Wohnung war, hat sie gesehen. Wenn Andrej zurückruft, werden wir sehen, wer von uns beiden Recht hat.«
In Erwartung des Anrufs saßen sie schweigend in der Küche. Ljoscha legte Patiencen, Nastja schälte mechanisch Kartoffeln. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, dass sie bereits einen riesigen Dreilitertopf bis oben hin angefüllt hatte. Hilflos blickte
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