Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
Prolog
In alten buddhistischen Schriften wird der Himalaja »Schneespeicher« genannt, und dieser Speicher wurde 1996 immer wieder durch ungewöhnlich ergiebige Schneefälle aufgefüllt.
Am frühen Abend des 10. Mai 1996 tobte in den Hochregionen des Mount Everest über zehn Stunden lang ein ungewöhnlich heftiger Schneesturm. Dreiundzwanzig Männer und Frauen, Bergsteiger, die an jenem Tag über die Südroute von Nepal aus aufgestiegen waren, schafften es nicht, sich in die Sicherheit ihres Hochlagers zu retten. Praktisch ohne Sicht, einem Sturm in Hurrikanstärke ausgesetzt, der einen Laster hätte umkippen können, kämpfte die Gruppe um ihr Leben.
Sie waren in der Todeszone gefangen, in jener Höhenlage über 8000 Meter, in der tiefe Temperaturen und Sauerstoffmangel rasch zum Tod führen können.
Während die Bergsteiger ums Überleben kämpften, konnten sie oft nur eine Armlänge weit sehen. Stellenweise gab es Seilsicherungen, an denen sie sich orientieren konnten. Dann sanken die Druckanzeigen ihrer Sauerstoffflaschen auf Null, und wirres Denken, Symptom der Höhenkrankheit, ließ keine rationalen Überlegungen mehr zu. Anzeichen von Erfrierungen machten sich bemerkbar, die spätere Amputationen nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich machten. Der Dunkelheit und dem heulenden Sturm ausgeliefert, fing man zu feilschen an. Meine Finger für mein Leben? Meinetwegen. Aber laß mich leben.
Unterhalb der im Abstieg begriffenen Gruppe, im Hochlager, zu dem sie sich hinunterkämpften, focht ein russischer Bergsteiger und Bergführer seinen ganz persönlichen Kampf aus. Um andere Expeditionsteilnehmer zu einem Rettungsversuch der im Sturm Verlorenen aufzurütteln, brüllte, flehte und bettelte er sie an.
Anatoli Nikolajewitsch Boukreev faßte einen Entschluß, den einige später als selbstmörderisch bezeichnen sollten. Er entschloß sich zu einem Rettungsversuch im Alleingang, trotz des tobenden Schneesturms, fast völliger Dunkelheit und eines Getöses, das einer der Bergsteiger mit »hundert über dem Kopf dahinbrausenden Güterwaggons« verglich. Boukreevs Entschluß führte zu »einer der erstaunlichsten Rettungsaktionen in der Geschichte des Bergsteigens«, wie der Kletterer und Autor Galen Rowell schrieb.
Zwei Wochen nach der Katastrophe am Mount Everest flog Boukreev von Kathmandu in Nepal nach Denver, Colorado, wo ihn Freunde abholten und ihn nach Santa Fe in New Mexico brachten, damit er sich von seinen Strapazen erholen konnte. Nach seiner Ankunft bat er mich zu einem Treffen, da ich einige Monate zuvor auf Ersuchen eines gemeinsamen Freundes eine Kamera gekauft und veranlaßt hatte, daß sie ins Everest-Basislager geschickt wurde. Unsere erste Begegnung war für den 28. Mai 1996 vereinbart.
Ich kannte Fotos von Boukreev aus der Zeit vor den Ereignissen am Mount Everest. Schlank, durchtrainiert, mit einem selbstsicheren Lächeln, so stellte ich ihn mir vor. Als ich ins Haus unseres gemeinsamen Freundes kam, erhob er sich zur Begrüßung langsam aus einem Sessel. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und blickten erschöpft. Die Nasenspitze und Teile seiner Lippen wiesen schwarze Verkrustungen auf, abgestorbene Hautpartien, die von schweren Erfrierungen herrührten. Er war geistesabwesend, so als hätte er seinen Leib verlassen und befände sich an einem unzugänglichen Ort.
Etwas an ihm war mir von irgendwoher vertraut – die Hohlheit und Leere in den Augen, und als er vortrat und mir die Hand gab, stieg die Erinnerung in mir auf: ein russischer Soldat in Mozambique, auf der Ladefläche eines mit Planen abgedeckten Truppentransporters, eine AK-47 auf dem Schoß. Dieser Soldat hatte mich genauso angesehen; sein Blick warnte mich davor, ihn zu filmen. Es war ein furchteinflößender Moment gewesen, doch das wirklich Erschreckende war nicht die Lässigkeit, mit der er seine Waffe auf mich richtete, sondern die Leere in seinem Gesicht.
Beim Essen unterhielten wir uns. Da meine Bemühungen, mein Schulrussisch aufzuwärmen, zu nichts führten, sprach Boukreev Englisch, flüssig und verständlich, aber in einfachen Sätzen. Er wollte über den Everest reden, erzählte dabei jedoch nicht seine Geschichte, sondern stellte laut Fragen über das Geschehen. Er wollte begreifen, was er durchgemacht hatte.
Am nächsten Tag trafen wir uns zu weiteren Gesprächen und ebenso am übernächsten. Unser gemeinsamer Freund vertraute mir an, daß Boukreev in der Nacht von Träumen geplagt wurde, von
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