Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
immer wenn ich aufstand und losgehen wollte, kamen wieder einer oder mehrere über den Grat, darunter auch unsere Leute. Ich wunderte mich sehr, daß sie immer noch aufstiegen, denn ich hatte angenommen, sie wären aus eigenem Antrieb oder auf fremden Rat hin umgekehrt. Jetzt hatte ich das Gefühl, es wäre nicht richtig, wenn ich schon ginge, ehe nicht jeder den Gipfel erreicht hatte. Sie waren ja so nahe.
Zwischen vierzehn Uhr fünfzehn und vierzehn Uhr dreißig hatten die vier Mountain-Madness-Kletterer, an denen Adams und Boukreev bei ihrem Abstieg vorbeigekommen waren – Madsen, Fox, Gammelgaard und Pittman -, und Lopsang Jangbu den Gipfel geschafft. Für Sandy Pittman waren die letzten Meter die schwierigsten des Tages. Während sie auf den Aluminium-Dreifuß zutaumelte, der den Gipfel bezeichnet, entströmte ihrer dritten Flasche, die sie am Südgipfel bekommen hatte, der letzte Sauerstoff. Vermutlich hatte sie ihn rascher verbraucht als vorgesehen. Zum Glück bemerkte Lopsang ihre Bedrängnis und schloß Sandy an die zusätzliche Flasche an, die er in seinem Rucksack vom Lager IV heraufgetragen hatte.
Fischer hatte im Verlauf des Tages keinen von seinen Kunden zurück ins Lager IV geschickt, weil er mit keinem mehr Kontakt gehabt hatte, nachdem Lene Gammelgaard sich gleich zu Anfang von ihm getrennt hatte. Um vierzehn Uhr dreißig hatten alle seine Kunden, die zum Aufstieg aufgebrochen waren, das Dach der Welt erklommen. Nachzügler, die er hätte aufsammeln müssen, gab es nicht. Seine Gruppe konnte jetzt nur mehr eine einzige Richtung einschlagen, nämlich bergab. Aber keiner rührte sich bis fünfzehn Uhr zehn vom Gipfel. Vierzig Minuten lang wurde gefeiert, fotografiert, es gab Tränen, Glückwünsche und Schulterklopfen – und vierzig Minuten weniger Sauerstoff, vierzig Minuten weniger Tageslicht.
Als Fischer das obere Ende des Hillary Step endlich erreicht hatte, wollte Adams nichts wie runter. Da aber Harris und Krakauer vor ihm dagewesen waren, fragte er sie, ob er ihnen den Vortritt lassen solle. »Dankbar hängten sie sich ein und ließen sich über die Kante gleiten«, sagte Adams.
Während Adams den Abstieg von Harris und Krakauer beobachtete, weil er es kaum erwarten konnte, bis sie unten ankamen und er ihnen folgen konnte, führte Boukreev kurz nach vierzehn Uhr dreißig ein Gespräch mit Fischer.
Ich sprach mit Scott, während er sich nach dem Hillary Step ausruhte. Auf meine Frage, wie er sich fühle, sagte er, daß er müde sei. Der Aufstieg sei ihn hart angekommen.
Ganz intuitiv wußte ich, daß es das Logischste war, wenn ich nun schleunigst zum Lager IV abstieg, um für unsere Gruppe mit Sauerstoff bereitzustehen, oder auch nur, um Tee und heiße Getränke vorzubereiten. 26 Ich war wieder bei Kräften und wußte, daß ich das alles schaffen konnte, wenn ich rasch abstieg. Vom Lager IV hatte ich einen ungehinderten Blick auf die Kletterroute zum Südsattel und konnte von dort aus beobachten, ob es Probleme gab.
Das alles sagte ich zu Scott, und er hörte mir zu und gab mir recht. Wir waren uns einig, daß ich absteigen sollte. Wieder versuchte ich, das Wetter abzuschätzen, und sah keinen Grund zu unmittelbarer Sorge.
Das Wetter war auch nicht besorgniserregend, während die Mountain-Madness-Kletterer sich auf dem Gipfel aufhielten. Klev Schoening erinnerte sich: »Der Wind auf dem Gipfel war stark. Ich spürte aber nicht, daß er stärker wurde, und bemerkte keine Anzeichen von drohendem Schneefall oder Schlechtwetter.« Auch Sandy Hill Pittman machte sich keine Sorgen ums Wetter, wohl aber um die Umkehrzeit. »Ich merkte nichts davon, daß das Wetter schlechter geworden wäre. Allerdings hatte ich das ungute Gefühl, daß wir spät dran waren, nicht weil man uns eine fixe Zeit für den Gipfel angegeben hätte, sondern weil ich aus Berichten wußte, wann man oben sein soll und wann man wieder absteigen muß. Meine Befürchtungen galten nicht dem Wetter, sondern der Verspätung.«
Lene Gammelgaard aber sah etwas, das sie beunruhigte. »Ehe ich über den Hillary Step weiter aufwärts ging bemerkte ich weißen Dunst, der alle Konturen verwischte, aus den Niederungen aufsteigen, und ich sah auch, daß der Wind über dem Gipfel an Stärke zunahm.« Sie hatte die Ausbildung eines Unwetters beobachtet, das sie und ihre Kameraden binnen weniger Stunden einholen sollte, auf dem Abstieg, dem gefährlichsten Teil einer Everest-Expedition, wenn man am verletzlichsten und
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