Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
mir klar, daß niemand von sich aus aktiv werden würde. Deshalb beschlossen Neal und ich, die Fixseile bis zum Gipfel gemeinsam anzubringen. Auf dem Grat holte ich ein paar alte Seile aus dem Schnee, entschloß mich dann aber, um schneller voranzukommen, diesen Streckenabschnitt den Führern und Sherpas hinter mir zu überlassen und bis zum Hillary Step vorauszugehen.
Der Hillary Step ist ein aufrechter Sporn auf dem Südostgrat, ein Felsturm von etwa zehn Metern Höhe, so markant, daß einige Mountain-Madness-Leute ihn mit einem Teleobjektiv von Thyangboche aus sehen konnten. An seinem Fuß stellt er für Bergsteiger nach etwa zwölfstündigem Aufstieg physisch wie psychisch eine echte Herausforderung dar. Erschöpft, mit drei, vier Atemzügen pro Schritt, empfindet ihn jeder, der ihn vor sich aufragen sieht, als beängstigend und entmutigend. Der Hillary Step ist für viele Gipfelstürmer der Umkehrpunkt.
Mir war dieses Hindernis vertraut, weil ich 1991 dieselbe Route auf den Everest genommen und den Hillary Step im Alleingang ohne Fixseile bewältigt hatte. Da aber dieser Abschnitt doch einiges an Kletterübung erfordert, mußten wir ihn für unsere Kunden sichern. Neal stand unten und gab das Seil aus, das er von einem Sherpa bekommen hatte, und während er mich sicherte, befestigte ich es an vorhandenen, von früheren Expeditionen angebrachten Fixpunkten.
Kurz nachdem ich das obere Ende des Hillary Step erreicht hatte und das Seil festmachte, kam Neal herauf, und ihm folgten Andy Harris, einer von Rob Halls Führern, sowie Jon Krakauer, einer von Halls stärkeren Kunden.
Um mit der Arbeit schneller voranzukommen, hatte es Boukreev den hinter ihm Kommenden überlassen, ein Stück der Route unterhalb des Hillary Step für die Kunden zu sichern, aber Harris war mit Krakauer weitergegangen und hatte keine Seile angebracht. Adams sollte diesen Abschnitt später als »den am stärksten ausgesetzten Teil der Strecke« bezeichnen, »auf dem man im Alleingang eine recht heikle Querung hinter sich bringen mußte, auf der ein Fehltritt tödlich sein konnte.«
Am oberen Ende des Hillary Step zog Krakauer eine Seilrolle heraus, die ihm Ang Dorje am Südgipfel gegeben hatte, und man besprach das weitere Vorgehen. Oberhalb des Hillary Step steigt der Südostgrat über ein leicht buckliges Schneefeld an, und da der Wind inzwischen stärker geworden war, wollte man eine weitere Seillänge anbringen. Boukreev, der sah, daß etliche an der Arbeit waren, entschloß sich wie schon vorher, weiterzugehen und eine Spur zu treten.
Boukreev stieg also voraus. Der wegen seines schwindenden Sauerstoffvorrats besorgte Krakauer fragte Beidleman, ob er etwas dagegen hätte, wenn er »zum Gipfel vorauseilte« und ihm das Anbringen des Seils überließe. Beidleman war einverstanden. »Ich sagte, gut. Dann rollte ich das Seil ab. Martin (Adams) war unter mir. Ich fragte ihn, ob er mir helfen wolle, das Seil auszugeben und das Ende zu befestigen, was er auch tat. Ich ging los. Nach knapp zehn Metern verfing sich das Seil im Fels. Martin half mir, es loszumachen. Ich stieg weiter bis zu einer Orientierungsstange und band das Seil los. Von dort ging ich die restlichen vierzig oder fünfzig Meter, um die Seile festzumachen, fand aber keine Verankerungsmöglichkeit.«
Beidleman konnte keinen Fixpunkt finden. Da er das Seil nicht lose auf dem Schnee liegen lassen wollte, damit sich niemand daran sicherte, in der Annahme, es sei irgendwo weiter oben befestigt, warf Beidleman es in Richtung Tibet hinunter. Nicht einmal die Hälfte der Strecke, die man hätte versichern müssen, war geschafft.
Um dreizehn Uhr sieben erreichte Boukreev den Gipfel des Mount Everest, nicht so sehr hochgestimmt, als vielmehr erleichtert. Sein Ziel war es gewesen, möglichst früh auf dem Gipfel zu stehen, um die Kunden unter Sauerstoff ins Lager IV zurückzubringen. Obwohl sieben nach eins viel später als erhofft war, würde man es schaffen, wenn die Leute jetzt rasch hintereinander ankämen. Es war knapp, aber noch möglich. Und selbst wenn einigen kurz vor Lager IV der Sauerstoff ausginge, war das nicht unbedingt eine Katastrophe, weil man beim Abstieg eine gewisse Strecke ohne Sauerstoff zurücklegen kann. Trotzdem ist es ein Lotteriespiel, wie weit man kommt.
Um dreizehn Uhr zwölf kam Krakauer, der in Boukreevs Spur gegangen war, am Gipfel an, kurz darauf gefolgt von Harris. Beidleman, der hinter Harris aufstieg, »war ein wenig langsam unterwegs«, wie
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