Der Gipfel
schätzen – mindestens sechzig Stundenkilometer mit Böen von vielleicht hundert zwanzig oder mehr. Das reichte, um uns etliche Male umzu blasen. Irgendwann während dieses Marsches, vielleicht nach einer Stunde, hatte uns die Kälte vollends im Griff, und alle Gesichter waren eisverkrustet. Vielleicht war wieder eine Stirnlampe ausgegangen. Wir befanden uns auf schwierigem, mit Fels durchsetztem Eis. Auf den Absturz vor uns fiel der Lichtstrahl einer Stirnlampe, davor war eine kleine Erhebung. Ich trat an den Rand und schaute rüber. Ob ich nun wirklich etwas sah oder nur etwas spürte – jedenfalls wußte ich, daß mir Gefahr drohte. Auf dem ganzen Südsattel hätten wir nicht einmal in die Nähe eines solchen Geländes kommen dürfen.
Da erfaßte mich große Angst, und ich ging zur Gruppe zurück. Mit Hilfe von Tim und Klev machte ich den Leuten schreiend klar, daß wir beisammenbleiben mußten, daß wir uns eng aneinanderdrängen und abwarten sollten. Von der letzten Nacht wußte ich, daß sich der starke Sturm gegen zweiundzwanzig Uhr, ehe wir losgingen, gelegt hatte. Ich hoffte, wenn er auch nur eine Minute nachließe, könnten wir Sterne oder Berge erkennen und uns daran orientieren, um so die richtige Richtung zu finden. Ich hatte keine Ahnung, ob wir die Kangshung- oder die Lhotse-Flanke oder welche Flanke auch immer vor uns hatten.
Wir kauerten uns eng aneinander, mit dem Rücken zum Wind. Man lag sich gegenseitig auf dem Schoß, brüllte sich an, schlug den anderen auf den Rücken und kontrollierte sich untereinander. Alle unternahmen geradezu heroische Anstrengungen, sich gegenseitig wach zu halten und zu wärmen. Das ging eine ganze Weile so – wie lange, weiß ich nicht. Mein Zeitgefühl funktionierte nicht mehr richtig, aber es muß länger gedauert haben, weil mir kurz darauf sehr kalt wurde. Wir kontrollierten die Finger. Wir beobachteten uns gegenseitig, ob wir bei Bewußtsein waren. Wir versuchten uns zu bewegen. Dergleichen hatte ich noch nie erlebt, ein Gefühl, dem Ein schlafen ohne Erwachen ganz nahe zu sein. Warme Wallungen durchströmten meinen Körper. Ich weiß nur, daß ich in den Wind schrie, daß alle schrien, sich bewegten, um sich traten nur um zu überleben. Immer wieder sah ich auf meine Uhr und hoffte, es würde aufklaren.
Irgendwann hörte es kurz auf zu schneien, während der Sturm weitertobte. Ich blickte in die Höhe und sah kurz ein paar Sterne, dann war alles wieder zu. Aber ich hoffte weiter und weiß noch, wie ich zu Tim und Klev sagte, daß Sterne zu sehen seien und daß wir uns an ihnen orientieren könnten. Wir erwogen, was es bringen würde, wenn wir Sterne oder Berge sehen konnten. Dann klarte es wieder kurz auf. Der Wind heulte noch, aber ich weiß, daß ich schrie: ›Dort oben ist der Große Wagen und der Nordstern.‹ Klev oder Tim sagte: ›Ach ja, dort ist der Everest.‹ Ich weiß noch, daß ich hinsah und perplex war – und nicht mal wußte, ob es der Everest oder der Lhotse war.«
Der »verzweifelte Haufen« hatte sich knapp zwanzig Meter vom Absturz der Kangshung-Flanke zusammengedrängt, vierhundert Meter vom Lager IV entfernt. Bei klarem Wetter wären es zehn bis fünfzehn Minuten gewesen, doch sie hatten sich hoffnungslos verirrt, und der Sturm tobte in unverminderter Stärke.
Ich weiß nicht, wie lange ich im Zelt war, nachdem ich von meiner ersten Suche zurückgekehrt war. Nun versuchte ich, wieder zu Kräften zu kommen, und überlegte, ob ich hinausgehen sollte, um die Situation abzuschätzen. Schließlich hörte ich Geräusche und trat vors Zelt. Es war Martin? 35 Sein Gesicht war eisverkrustet, er sagte nicht viel und stöhnte nur. »Martin, bist du okay?« sprach ich ihn an. Er antwortete nicht. Ich nahm ihm die Steigeisen ab und fragte: »Wo sind die anderen?« Aber er brachte kein Wort heraus, weil sein Gesicht völlig vereist war. Ich half ihm ins Zelt und in seinen Schlaf sack und gab ihm Sauerstoff.
Pemba, der Martin gesehen hatte, brachte Tee, und er trank ein paar Schluck. Ich fragte ihn wieder, was passiert sei, aber er konnte mir nicht weiterhelfen. Deshalb fragte ich Pemba, und er sagte, er habe Lichter gesehen, die sich dem Lager näherten. Sicher würden bald einige der Leute eintreffen. Nachdem ich nach dem Tee eine Viertelstunde gerastet hatte, versuchte ich wieder hinauszugehen, aber der Wind war stark und rüttelte am Zelt, viel stärker als letzte Nacht vor unserem Aufbruch. Als ich draußen unmittelbar ums Zelt herum
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